- Serienkiller
- Recovery Boys
Im Land der Drogenfreiheit
Die Doku-Serie »Recovery Boys« wirft einen verstörenden Blick auf den Drogensumpf USA
Als der Vietnam-Veteran Jacob 1990 in dem Film »Jacob’s Ladder« auf die USA blickte, waren diese ein sauberes, ruhiges, fast friedliches Land. Der Kampf gegen Kommunismus, Sowjetunion, das Böse schlechthin schien gewonnen zu sein, jedes Atomwaffenarsenal überflüssig, also alles auf bestem Wege ins ewige Licht von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Adrien Lynes Psychothriller, dessen Hauptfigur Jacob einen Militärkomplott um die aggressionssteigernde Substanz »Ladder« enthüllt, war daher ein verstörender, aber historischer Blick in jene Ära, als Amerika noch dreckig war, dröhnend, stets kriegerisch.
Dr. Kevin Blenkenship dürfte sein Rehabilitationsprojekt demnach nicht zufällig nach Lynes Film benannt haben. Denn die USA befinden sich weiter im Krieg, in einem schmutzigen, lauten, zornigen - auch wenn es kein militärischer ist. Es ist ein Krieg gegen die Drogen. Allein Schmerzmittel, Opioide genannt, kosten täglich im Schnitt 91 Amerikaner das Leben, 33 000 pro Jahr - mehr noch als durch Schusswaffengebrauch, mehr sogar als durch den Straßenverkehr - sterben daran. Die meisten dieser Opfer sind Männer. Weiße Männer. Weiße Männer aus Bundesstaaten wie West Virginia.
Hierhin führt uns die Netflix-Doku »Recovery Boys«. Ihre Protagonisten heißen Jeff, Adam, Ryan und Rush. Sie leben im ländlich geprägten, erzkonservativen, strukturschwachen Gebiet der Appalachen - laut Statistik der ideale Nährboden für Drogenkarrieren, die im furios gescheiterten »War on Drugs« zwar seit 15 Jahren zunehmen, aber besonders in der Provinz allenfalls juristisch bekämpft werden. Da es auch im bettelarmen Bundesstaat von Dr. Blenkenship keine Hilfseinrichtung gab, hat sich der Vater eines heroinsüchtigen Sohnes seine eigene gebaut. Die Kamera ist in jeder Folge 90 Minuten dabei, wenn vier Schicksalsgenossen einziehen, um sich durch landwirtschaftliche und therapeutische Arbeit aus dem Drogensumpf zu befreien.
Schafe hüten, Fortschritte machen, Heu wenden, Rückschritte machen, zwischendurch ein paar Tränen nebst Durchhalteparolen - »Recovery Boys« hätte Reality-TV der konventionellen Art sein können; eine tendenziell voyeuristische Fleischbeschau teilinszenierter Wirklichkeiten auf der Suche nach habitueller Absonderlichkeit zum Mitleiden, Fremdschämen, Erhabenfühlen. Dass all dies zu keiner Zeit eintritt, ist Elaine McMillion Sheldon zu verdanken. Wie in ihrem Oscar-nominierten Kurzfilm »Heroin(en)« skizziert die 30-Jährige abermals den ganz normalen Drogenwahnsinn der USA, ohne ihn zu dramatisieren.
Wenn der nette Jeff seinem Retter »Dr. B.«, wie ihn alle hier bloß nennen, die Tatorte früherer Beschaffungskriminalität zeigt, wird seine eher beiläufige Schilderung einer kaputten Kindheit nicht von Geigen verstärkt; wenn der bärige Rusk allein im Wald sein Dasein reflektiert, kommentiert kein Schnitt die leise Selbsterkenntnis. Wenn der schlaksige Ryan vor Dankbarkeit für die Chance zum Neuanfang heult, hält die Kamera trotz aller Nähe Distanz. Ohne Off-Kommentar, ohne Effekthascherei, ohne Einflussnahme steht Elaine McMillion Sheldon leicht abseits und gerade deshalb mittendrin, wenn sich das drogensüchtige Amerika selbst bespiegelt. Vielleicht sollte man alle RTL-Verantwortlichen dazu verdonnern, 24 Stunden »Recovery Boys« in Dauerschleife anzusehen. Das wäre lehrreich - und unterhaltsam.
Ab 29. Juni auf Netflix verfügbar
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