Kali-Rebellion wirkt bis heute nach

Vor 25 Jahren traten die Kumpel im thüringischen Bischofferode in einen Hungerstreik

  • Simone Rothe, Bischofferode
  • Lesedauer: 4 Min.

Vor einigen Wochen kamen die Kräne: Nun ist der letzte Förderturm, neben der riesigen roten Abraumhalde ein Symbol für das Kali-Werk »Thomas Müntzer« im nordthüringischen Bischofferode, demontiert. Abgerissen kurz vor einem Datum, das vielen als Beginn eines der härtesten und längsten Arbeitskämpfe von Ostdeutschen gegen die Industriepolitik nach 1990 gilt. Der Hungerstreik der Bergleute von Bischofferode, der vor 25 Jahren im Juli begann, sei mehr als eine Episode in der deutschen Nachwende-Geschichte, sagt Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (LINKE).

»Aus diesem Arbeitskampf entstand ein Widerstandsgeist, der noch heute zu spüren ist«, so Ramelow. Das schwinge mit, wenn es um den Erhalt von Arbeitsplätzen beispielsweise bei Siemens im sächsischen Görlitz und in Erfurt oder bei Opel in Eisenach gehe. »Da steckt Bischofferode überall drin, nicht bei den Jüngeren, aber bei den Älteren.«

Für Ramelow, aber auch viele ehemalige Bergleute ist der verlorene Kampf um die 700 Arbeitsplätze in der Kali-Grube mehr als eine Niederlage vor einem Vierteljahrhundert. »Er hat unsere Biografien geprägt«, sagt Gerhard Jüttemann. Er war 1993 Vize-Betriebsratschef und einer der Rebellen. Ramelow, damals Chef der Thüringer Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen, war als Schlichter einer der letzten, der Ende 1993 an der Seite der Bergleute war, als die Lichter in der Grube endgültig ausgingen. »Emotional ist das für mich nach wie vor eine offene Wunde«, sagt Ramelow. Eine Grubenlampe hat er in sein Büro in der Staatskanzlei gestellt.

Rückblick: In Windeseile hatte sich am 1. Juli 1993 in dem kleinen Bergbauort zwischen Nordhausen und dem niedersächsischen Duderstadt die Nachricht herumgesprochen, dass der Treuhandausschuss des Bundestages der umstrittenen Fusion der ost- und westdeutschen Kaliindustrie zugestimmt hat. Jüttemann: »Da kamen die ersten und sagten. Jetzt reichts!« Der Hungerstreik, den die Bergleute über etwa 80 Tage durchhielten und an dem sich mehr als 100 Kumpel und ihre Unterstützer beteiligten, begann.

Schon Wochen davor hatten die Kumpel gegen die Konsequenzen der Kali-Fusion protestiert, bedeutete die Entscheidung doch das Aus für die Grube in Bischofferode und knapp ein halbes Dutzend anderer ostdeutscher Kali-Standorte. »Die Konkurrenz musste weg«, sagt Jüttemann. »Dabei hatten wir noch für 40 Jahre Kali-Vorräte liegen.« Und es gab für Bischofferode sogar einen Kaufinteressenten: Der westfälische Mittelständler Johannes Peine wollte das Kali-Werk weiterführen. In der strukturschwachen Region in Nordthüringen, die fast 100 Jahre vom Kalisalz lebte, gingen im Zuge der Fusion, aber auch, weil vielerorts die Rohstoffe weitgehend ausgebeutet waren, mehrere tausend Arbeitsplätze verloren. Als Produktionsstandorte vom Kali-Produzenten K+S AG (Kassel) übernommen und bis heute in Betrieb sind Werke in Zielitz in Sachsen-Anhalt und Unterbreizbach in Südthüringen.

Die Rebellen von Bischofferode, einem der wenigen katholisch geprägten Landstriche in Ostdeutschland, die für ihre Arbeitsplätze hungerten, sorgten im Sommer 1993 für Schlagzeilen weltweit. Politiker, Gewerkschafter und Künstler kamen und solidarisierten sich mit den Bergleuten.

Übertragungswagen von TV-Stationen standen wochenlang vor dem Werk mit den roten Backsteinbauten. In Interviews ging es um die Arbeit der Treuhandanstalt, die die DDR-Wirtschaft privatisieren sollte oder um Risiken im Zuge der deutschen Einheit. Er habe an manchen Tagen sechs Live-Interviews nacheinander gegeben, erinnert sich Jüttemann. Er wurde von 1994 bis 2002 als Parteiloser für die damalige PDS in den Bundestag gewählt. Heute ist der 66-Jährige Vorsitzender des Thomas-Müntzer-Kalivereins.

Das Aus für das Kali-Werk konnte durch den spektakulären Arbeitskampf nicht abgewendet werden. »Aber wir haben gekämpft und mehr erreicht, als uns zugebilligt werden sollte«, sagte der Betriebsrat am Neujahrstag 1994 nicht ohne Trotz und Stolz. Der Sozialplan sah Abfindungen und mehrjährige Beschäftigungsgarantien unter anderem im Rahmen der Stilllegung und Sicherung der etwa 600 Meter tiefen Grube vor.

Und wie sieht es heute in Bischofferode aus? Die Häuschen und Vorgärten sind gepflegt, es gibt ein Biomassekraftwerk und Handwerksbetriebe. Aber etwa 1000 Menschen haben den Ort laut Jüttemann verlassen, mehrgeschossige Wohnhäuser mussten abgerissen werden.

Es gibt ein Museum des Kalivereins, das die Bergbautradition, aber auch den Arbeitskampf und Widerstandsgeist der Kumpel dokumentiert. »Bischofferode ist zum normalen Dorf geschrumpft«, sagt Ramelow. »Aber es war ein Industriestandort.« dpa/nd

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