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Auf Weltniveau
Jirka Grahl ist für »nd« bei der WM in Russland unterwegs
Wirklich wahr: Während ich dies hier schreibe, werde ich gefilmt. TNV, das nationale Fernsehen der Autonomen Republik Tatarstan braucht Schnittbilder für das Interview, das meine Kollegin Anna gerade mit mir geführt hat. Zuvor hatten Kindertanzgruppen des »Hauses der Freundschaft der Völker« auf einer Bühne Kasatschok getanzt, jetzt wollte Anna wissen, wie es mir gefallen hat. Gut! Und die Kinder? So tolle Tänzer, süß, herzerwärmend! Und was für eine Story werde ich daraus bereiten? Oje, vermutlich keine, tut mir leid.
Dies ist meine dritte WM, und mittlerweile bin ich es gewohnt, dass einem südamerikanische Kollegen plötzlich das Handy vor die Nase halten: Radioschalte nach Kolumbien - was sagst du über James, deutscher Kollege?
Puh, ja was? Schnell, schnell, wird mir bedeutet, und schon höre ich mich irgendetwas von Bayern und der Bewunderung der Deutschen für die Fähigkeiten des kolumbianischen Posterboys daherreden. Gespräche auf dem Niveau von Field-Interviews, aber was soll’s? Die Kollegen haben Sendezeit zu füllen. Auch WM-Reporter müssen mit ihren Kräften haushalten, und was spart man nicht an Zeit und Aufwand, wenn man das Aufnahmegerät nur einmal über den Schreibtisch halten muss. Die WM dauert viereinhalb Wochen!
Wobei man sagen muss, dass der Interview-Irrsinn in Russland neue Formen angenommen hat. Vor allem hier im regionalen Medienzentrum der Wolgastadt Kasan, in die es die Weltpresse ganz offensichtlich nicht alle Tage verschlägt. Hier bin ich neben dem leutseligen Kolumbianer quasi der Goldstaub, wenn es um die Meinung der internationalen Medien geht. Gestern beispielsweise hat die Zeitung »Kasanskije Wedomosti« allerlei Sportliches wissen wollen: Was wird aus der Sbornaja? Fliegen raus. Wie traurig sind die Deutschen? Viele sehr, manche gar nicht. Wer schafft’s ins Finale? Belgien und Kroatien. Danke, bitte!
Und das war noch eines der gehaltvolleren Gespräche: In der Regel geht es sonst darum, ob ich schon Russisches gegessen habe (»Borschtsch. Wkusno!«), wie es mir gefällt (»Choroscho!«) und wie gut alles organisiert ist (»Otlitschno!«) Die Manie der Kollegen, ihren Zuschauern jedes Mal vorzuführen, wie hier gerade Weltniveau erreicht wird, erinnert mich stark an meine Jugend in der DDR.
Ach ja: Sollten sie in dieser Kolumne jemals ein Interview mit einem ausländischen Reporter lesen, wissen Sie, wie es um den nd-Mann vor Ort bestellt ist: Ihm geht der Saft aus. Oder die Ideen. Vielleicht sogar beides. Noch aber weiß er es zu verhindern. Weltpresse auf Weltniveau.
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