- Politik
- Wahl in der Türkei
»Es kann alles passieren«
Die türkischen Wahlen hinterlassen ein polarisiertes Land - und eine polarisierte Opposition
Die 15 Tage vor den türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen waren für Gülcan die seit Langem schönste Zeit in Diyarbakır. Jeden Tag war sie nachmittags drei Stunden in ihrer Nachbarschaft im Stadtteil Bağlar im Westen der kurdisch geprägten Provinzhauptstadt unterwegs, um an den Haustüren für die Linkspartei HDP zu werben. »Die Familien waren glücklich, uns zu sehen«, sagt sie, »weil seit Langem niemand mehr von der Partei vor Ort war. Wenn ich gesagt habe: ›Ich grüße euch von Selahattin Demirtaş, wir erwarten eure Stimmen‹, haben mich die meisten direkt umarmt, geküsst und zum Tee hereingebeten.«
In ihrer Nachbarschaft war Gülcan eine von etwa 20 Helfern, viele davon ältere Menschen. »Von den jungen Leuten sind nur wenige Aktive übrig, viele sind verhaftet worden. Selbst meine Familie, die sonst sehr aktiv ist, war wegen des Ausnahmezustands kaum mehr auf der Straße«, sagt Gülcan. Einige Wahlhelfer aus ihrer Nachbarschaft wurden festgenommen und kurz vor den Wahlen wieder freigelassen. Dass in Bağlar 68 Prozent Demirtaş gewählt haben und die HDP auf 71 Prozent kam, ist auch der Arbeit von HDP-Aktiven wie Gülcan geschuldet.
Einen Abend lang hat die Anfang 30-Jährige den erneuten Einzug der HDP ins Parlament gefeiert. »Am nächsten Tag bin ich morgens aufgestanden und habe zu meinen Eltern gesagt, sie sollen mich nicht ansprechen, nicht anfassen, ich muss als Kurdin, als Frau weitere fünf Jahre mit diesem Mann leben.« Seit sie eine Jugendliche war, kennt sie nichts anderes als die AKP und Erdoğan. Weggehen kommt für Gülcan trotzdem nicht infrage: »Bevor ich in Europa putzen oder bei Burger King arbeiten gehe, bleibe ich lieber hier.«
In einer kleinen Seitengasse der Altstadt Sur kauft Gülcan in einem Krämerladen ein. Der schmale Mann hinter der Auslage mit Kekspackungen und Salzgebäck besitzt den Laden schon seit 20 Jahren. Aber die Geschäfte laufen schlecht, er deutet auf das bisschen Gemüse, das er verkauft: »Alles ist teuer geworden, ein Kilo Tomaten hat früher ein Lira gekostet, jetzt sind es drei Lira.« Gefragt nach den Wahlen, winkt er nur ab. An den Feiern mit Autokorso, Öcalan-Slogans und Feuerwerk am Wahlabend hat er als HDP-Wähler trotzdem teilgenommen. Ein tätowierter Mann im Nike-Shirt bleibt vor dem Laden stehen und mischt sich ein: »Vor den Wahlen kommen die Politiker, um uns zu fragen, was wir brauchen, aber am Schluss ändert sich doch nichts.« Schnell kommt er auf die Belagerung Diyarbakırs durch die türkische Armee zwischen Dezember 2015 und März 2016 zu sprechen und zeigt auf ein Haus in der Umgebung: »Ich bin während der Ausgangssperren auf das Dach hochgestiegen, um eine Satellitenschüssel zu verschieben. Fast hätte mich dabei eine Kugel getroffen.« Für ihn wie für die meisten in Sur ist klar: »Die Bevölkerung war das Ziel dieser Operationen.«
Fast jeder in Sur hat während der Belagerung Extremsituationen erlebt. Zehntausende Arme, die Sur einst zu einer Hochburg der kurdischen Bewegung gemacht haben, wurden durch die türkische Armee vertrieben. Sie sollen nur geringe Entschädigungen erhalten. Familien, die die Entschädigungen nicht annehmen wollen, unterstützt die »Sur Plattform« bei ihrer Klage. Die Aktivisten der Plattform glauben nicht, dass der Plan der AKP mit der Zerstörung von über 3000 Häusern und der Errichtung sechs neuer Polizeistationen endet. Das Ziel scheint darin zu bestehen, auch die verbliebenen alteingesessenen sieben Nachbarschaften zu vertreiben und dort andere Bevölkerungsgruppen anzusiedeln. Immer noch sind in Sur viele Straßen gänzlich gesperrt, dort gilt weiterhin eine Ausgangssperre.
Fırat, ein Mitarbeiter der HDP in Diyarbakır, hebt hervor, dass die Ausgangssperren, die seit dem Krieg 2015 in den kurdischen Gebieten immer wieder verhängt werden, nun nicht mehr die Städte, sondern die Dörfer treffen. Kurz nach den Wahlen wurden für acht Landkreise in der kurdischen Provinz Bingöl Ausgangssperren angekündigt, die bis zum 13. Juli andauern sollen. Fırats Hoffnung gilt den Kommunalwahlen im März nächsten Jahres, auch wenn diese kaum etwas an den Ausgangssperren ändern können: »Es wäre wichtig, dass die HDP in die Stadtverwaltungen einzieht. Doch bis dahin kann alles passieren.«
1400 Kilometer nordwestlich - auf der anderen Seite des Landes im İstanbuler Stadtteil Şişli lebt Can. Jedes Jahr hat er einen neuen Job, zuletzt arbeitete er in einem Hotel, eine Ausbildung hat er nicht. Can glaubt, dass der Zustand der türkischen Wirtschaft Erdoğan zu Fall bringen wird: »Er kann dich und mich kontrollieren, aber die Wirtschaft kann er nicht kontrollieren.« Während er spricht, schaltet er den im Hintergrund laufenden Fernseher um - auf Halk TV, ein CHP-naher Sender. Wie viele kurdische und türkische Aleviten hat Can die Kemalisten von der CHP gewählt.
Andere CHP-Wähler haben diesmal strategisch ihre Stimme gegeben: »In Şişli haben viele meiner Freunde die HDP gewählt, damit diese über die Zehn-Prozent-Hürde kommt.« Noch vor dem Ende der Stimmauszählung in der Wahlnacht wurde eine Whats-App-Nachricht beim TV-Sender FOX TV verlesen, in der Muharrem İnce - Kandidat der CHP, die die größte Oppositionspartei des Landes ist - Erdoğans Sieg anerkannte. Für viele Oppositionelle war das ein Skandal. Angesprochen darauf, gibt Can zu bedenken, İnce habe die Nachricht dem Journalisten nicht zur Veröffentlichung geschickt. Er klingt selbst kaum überzeugt. Trotzdem soll İnce seiner Meinung nach den Parteivorsitzenden der CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, ersetzen.
Von den Ausgangssperren in Bingöl im Südosten des Landes hat Can nichts mitbekommen, es ist bis jetzt auch nur eine Randnotiz in ein paar oppositionellen Medien. Für ihn haben die Kurden bereits alle Rechte, wie man an den kurdischen Abgeordneten und Staatsbediensteten sehen könne. Die Inhaftierung etlicher HDP-Abgeordneter scheint für ihn keine Rolle zu spielen. Dass die HDP im Parlament für die Rechte der Kurden kämpfe, sei in Ordnung. Sein eigentlicher Punkt ist sowieso ein anderer. »Aber die PKK ist eine Terrororganisation«, meint Can.
Auch von den Angriffen auf HDP-Gebäude in drei Bezirken İstanbuls in der Wahlnacht hat er nichts mitbekommen. Kadır von der lokalen HDP spricht am Telefon von mindestens 2000 Personen, die sich vor dem Gebäude in İstanbul-Esenler, einem Stadtteil von Landflüchtigen, zu einem Mob versammelt hätten: »Sie haben islamistische und nationalistische Slogans gerufen und den Wolfsgruß der Faschisten gezeigt, auch HDP-Fahnen wurden angezündet. Ein paar drangen ins Gebäude bis zur Tür des Büros vor. Zu diesem Zeitpunkt waren noch 15 Menschen im Gebäude.« Erst nach zwei Stunden Belagerungszustand konnten sie, so Kadır, unter Polizeischutz das Gebäude verlassen.
Ruhig verlief dagegen die Wahlnacht von Zeynep, die in İstanbul-Şişli lebt wie Can - und der radikalen Linken angehört. Von einem Lokal aus hat sie zusammen mit Freunden die Wahlergebnisse verfolgt. Sie haben nichts anderes erwartet: »Die türkischen Linken verfallen nach jeder Wahl in große Depression, und kurz vor den Wahlen fangen sie an zu träumen, glauben plötzlich, dass wie durch ein Wunder etwas anderes herauskommen könnte als bei den letzten Wahlen.« Dann werde herumgerechnet am Tortendiagramm, das die Sitzverteilung im Parlament darstellt. Für Zeynep ist das Ergebnis eine Folge mangelnder Verankerung der sozialistischen Linken. »Wie sollte auch etwas anderes dabei rauskommen«, fragt sie, »wenn niemand die Arbeiter in den Fabriken oder den Stadtteilen organisiert? Tayyip selbst hat gesagt, dass unser einziges Programm ist, ihn wegzubekommen, und das ist leider nicht ganz falsch.« Trotzdem hat auch Zeynep ihre Stimme der HDP gegeben - »aus Gefühlsgründen«. Wäre es zu einer zweiten Runde mit İnce von der CHP gekommen, hätte sie nicht gewählt. »Die türkische Linke ist total fixiert auf Wahlen«, kritisiert sie. Es sei fast eine Religion: »Seit fünf Jahren geht das jetzt so. Einen Horizont, der über die nächsten Wahlen hinausreicht, gibt es nicht.«
Tatsächlich gibt es außerhalb des Wahlhorizonts zahlreiche Anknüpfungspunkte für die Linke: In Gebze unweit von İstanbul protestieren beispielsweise seit Mai 120 Arbeiterinnen der französischen Kosmetikfirma Flormar gegen ihre Entlassung. HDP-Politiker waren vor Ort und haben ihre Solidarität gezeigt. Sie waren und sind also durchaus auf der Straße - auch jenseits der 15 heißen Tage vor den Wahlen.
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