Zweite Kasse
Im Edeka ist es an diesem Samstag bumsvoll. Noch eine Stunde, dann startet das Achtelfinale der Fußballweltmeisterschaft zwischen Frankreich und Argentinien. Enttäuschte Schlandianer besorgen sich in Tierdärme gestopfte Fleischabfälle, die auf dem Grill landen sollen. Gerda hat Kassendienst. Ihre Laune ist nicht allzu gut, was in ihrem Fall bedeutet: Anstatt höflich all den doch nur eine Produktstandortinformation erbittenden Touristen ihr an fröhlicheren Tagen übliches »Haste keine Augen im Kopf?« entgegenzubrüllen, beben ihre Lippen kurz vor jedem Satz, und die dann üblicherweise aneinandergereihten Buchstaben müssten ihren Chef eigentlich veranlassen, ein »Kein Eintritt unter 18 Jahren«-Schild am Eingang anzubringen.
Die verkniffen stierenden Schnellschnellkunden haben es eilig. Kaum einer spricht, trotzdem grummelt es in der Warteschlange. Viele Männer mit Wurstpaket in der einen und Bierpalette in der anderen Hand wanken nervös. Kurz überlege ich, mal wieder den Agent Provocateur zu spielen. Weil ich Gerda mag, zögere ich. Weil ich zugleich weiß, dass sie ihren Ärger an Tagen wie diesen bei entsprechendem Anlass gern eruptiv entlädt, siegt dann doch der Teufel in mir. »Zweite Kasse!«, rufe ich grinsend, und einige der wartenden Herren erwachen aus ihrer Lethargie. Einer älteren Frau fällt vor Schreck sogar das in deutschen Supermärkten so beliebte Trennhölzchen aus der zitternden Hand.
Hinter ihr reißt einer die Augen auf, blickt zu Gerda und nickt mit zusammengepressten Lippen. Ein anderer nuschelt irgendwas in seinen Stalinschnauzer, und ein dritter atmet dramatisch aus. Ich wundere mich über Gerdas Ruhe und trete aus der Reihe, um sie zu sehen. Gerade ist ausnahmsweise ein netter Kunde an der Reihe. »Ich stell mich immer so gern bei Ihnen an«, sagt er sehr laut, während Gerda seine Waren scannt. Eine Tiefkühlpizza, ein Joghurt, eine Flasche Grapefruitsaft - offenbar ein Single, der es auf Gerda abgesehen hat. »Wissen Sie auch, warum?«, fragt er. Gerda drückt den Blick nach oben, lässt den Kopf aber unten. »Weil Sie sich immer so schön Zeit lassen. Nicht so wie bei Aldi, wo man es als Kunde kaum schafft, seine Sachen schnell genug einzupacken.«
Gerda legt die Stirn in Falten. »Wollen Sie damit sagen, ich arbeite langsam?«, faucht sie, und mit jeder weiteren ihrer rhetorischen Fragen steigert sie sich in eine sogar bei ihr selten zu erlebende Rage hinein. »Spielen Sie sich hier als empörter Kunde auf? Haben Sie schon mal Akkord am Fließband gearbeitet? Wissen Sie, dass Arbeiten wie diese hier einen krank machen können, todkrank? Oder hat Ihre Mama Sie verhätschelt und jetzt geschickt, damit Sie endlich mal ’ne Frau abkriegen?«
Jetzt nickt und nuschelt und atmet niemand mehr. Der freundliche Mann schluckt, zahlt und verschwindet. Dann steht Gerda auf, wirft ihre Schürze aufs Förderband und sagt: »So, Pause.« Ein Kollege löst sie ab, aber eine zweite Kasse öffnet nicht. Gerda sieht mich - und strahlt. Ich sehe sie - und strahle. Die Warteschlange blickt Gerda hinterher - und findet zurück zum Zorn.
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