• Politik
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Ein neuer Rahmen für die Militarisierung

Die Strukturierte Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik der EU - und deren Folgen

  • Wilhelm Ersil
  • Lesedauer: 7 Min.

Im Dezember 2017 beschloss der Europäische Rat eine Ständige Strukturierte Zusammenarbeit (Permanent Structured Cooperation - PESCO) in der Militärund Rüstungspolitik. Das hatten die Außenund Verteidigungsminister mit ihrer Brüsseler Erklärung vom 13. November 2017 vorbereitet. Darin verpflichteten sich die 25 beteiligten Mitgliedsländer auf gemeinsame Grundsätze, Bedingungen und Verpflichtungen für eine engere Kooperation - mit zunächst 17 Projekten. Dänemark, Malta und das vor dem EU-Austritt stehende Großbritannien nehmen nicht teil. PESCO hat für die Perspektive der Union bedeutende Konsequenzen. Die Bundesrepublik und Frankreich sind nach dem Brexit die mächtigsten EU-Militärmächte. Für die maßgeblichen Eliten beider Länder gehörten Entscheidungen für eine »Europäische Verteidigungsunion« (EVU) seit langem auf die Tagesordnung, ohne das Bündnis mit den USA und die NATO infrage zu stellen. Nunmehr wird die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit überschwänglich als erster Schritt zu einer Militärunion bewertet. Bundeskanzlerin Merkel sagte vor dem Davoser Weltwirtschaftsforum im Januar 2018, nach jahrzehntelanger Diskussion werde endlich eine gemeinsame Verteidigungspolitik begründet. Andere Protagonisten sehen im »Neustart« zur »Verteidigungsintegration« einen »großen Tag« für Europa, so Verteidigungsministerin von der Leyen, einen »historischen Schritt« und einen »Meilenstein in der europäischen Entwicklung«, so der damalige Außenminister Gabriel. Damit seien mehr Fortschritte als in den letzten drei Jahrzehnten erreicht worden, meinte Kommissionspräsident Juncker.

Die PESCO-Vereinbarungen gehen über frühere Entscheidungen zur Militarisierung der EU hinaus. Ziele sind nunmehr: der systematische Ausbau der Streitkräftekooperation; unionsweit schnell zur Verfügung stehende multinationale Einsatzkräfte und Kapazitäten zur Erhöhung von Interventionsfähigkeit; die Bereitschaft, »wesentliche Unterstützung« in Form von Truppen und Material für militärische Auslandseinsätze bereitzustellen. Die Teilnehmer verpflichten sich zur kontinuierlichen »realen Aufstockung der Verteidigungshaushalte« und damit zu weiterer Aufrüstung. Bis 2025 soll über Zwischenschritte eine funktionierende Europäische Verteidigungsunion entstehen.

Wilhelm Ersi

Er gilt als Nestor der europapolitischen Wissenschaften in der DDR: Prof. Dr. Wilhelm Ersil. Seine Bücher zur Außenpolitik der BRD, zu den Ost-West-Beziehungen und seine umfassende Monografie »Westeuropa - Politische und militärische Integration« waren Standardwerke für alle, die sich in Vorwendezeiten mit internationalen Beziehungen, ob wirtschaftliche oder politische, beschäftigten.

Nach frühzeitiger Promotion war Wilhelm Ersil als Wissenschaftler, Abteilungsleiter und Dozent am Institut für Internationale Beziehungen an der Akademie für Staat und Recht in Potsdam-Babelsberg tätig - und setzte dort manche Neuerung um. Dass beispielsweise Studenten in »seinem« Bereich Westeuropa/Japan mit am Tisch saßen und über ihre Arbeiten referierten, war (und ist wohl noch immer) in der Wissenschaftslandschaft ungewöhnlich. Ebenso, dass Diplom-Konsultationen abends am Esstisch in seinem Wohnzimmer stattfanden - und seine Frau ihm immer dann einen strafenden Blick zuwarf, wenn er wieder einmal vergessen hatte, den Studenten einen Kaffee anzubieten.

In den frühen 1990er Jahren war Prof. Ersil maßgeblich an der Gründung der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg beteiligt und prägte deren außen- und deutschlandpolitische Schwerpunktsetzung maßgeblich. Noch heute ist er wissenschaftlich aktiv, unter anderem als Publizist und im Wissenschaftlichen Beirat des außenpolitischen Magazins »WeltTrends«, dem wir diesen Text entnahmen.

Am Mittwoch wird Wilhelm Ersil 90 Jahre alt. Auch das »nd«, in dem er Interviewpartner und Autor war, gratuliert. sat

PESCO wird die EU-Integration einschneidend beeinflussen. Dadurch entsteht ein über den Lissabon-Vertrag und den EU-Mechanismus hinausgehendes Geflecht staatlicher Verbindungen und Verpflichtungen. Die zentralen Vorhaben eröffnen neue Möglichkeiten militärischer und rüstungswirtschaftlicher Kooperation zwischen verschiedenen Teilnehmern. Damit zeichnen sich neue Richtungen differenzierter Integration ab. »Kerneuropa« zeigt sich in neuen Schattierungen. Einzelnen Staaten ist es erlaubt, in bestimmten Bereichen schneller voranzugehen als der Rest der EU. Verschiedenartige Allianzen werden agieren. Neue staatliche (und unternehmerische) »Koalitionen der Willigen« können entstehen. Auf jeden Fall wird die deutsch-französische Achse massiv gestärkt. Im März 2018 fand erstmals eine Ratstagung im Rahmen von PESCO statt, welche eine Empfehlung für eine »road map« für die Umsetzung der Ständigen Zusammenarbeit verabschiedete. Einem »Sekretariat« werden hierfür in Verbindung mit bestehenden EU-Einrichtungen umfassende Befugnisse eingeräumt. Konsequenzen für den EU-Mechanismus werden nicht ausbleiben. PESCO stimuliert zudem weitergehende Initiativen, so auf außenpolitischem Gebiet. So wird angeregt, Deutschland und Frankreich sollten mit anderen Partnern eine gemeinsame Außenpolitik formulieren, diese auch ohne unionweiten Konsens verfolgen und so als »Leuchtturm« agieren (Norbert Röttgen).

Die Vereinbarungen werden den militär-industriellen Komplex innerhalb der EU stärken. Die Verteidigungshaushalte sollen regelmäßig real erhöht und Investitionen für neue Waffensysteme gesteigert, die Zusammenarbeit bei Forschung und Entwicklung sowie bei der Rüstungsbeschaffung effektiver werden. Die Teilnehmer verpflichten sich somit zu einem Rüstungsschub. Projekte wie Eurodrohnen, neue Kampfflugzeuge und ein gemeinsamer Panzer werden erörtert, wofür sich Frankreich besonders engagiert, so Verteidigungsministerin Parly. Bei solchen Superprojekten sind schwächere Konkurrenten mit kerneuropäischen Rüstungsgiganten konfrontiert. Streit um Finanzmittel, wohl auch um technologische Souveränität, ist absehbar. Multinationale Rüstungsprojekte von Staaten und Konzernen können teilweise durch EU-Finanzmittel gefördert werden. Das kann durch den (geplanten) Europäischen Verteidigungsfonds für Erforschung und Entwicklung von Militärtechnologie und - nach einem Vorschlag der EU-Kommission - für gemeinsame Beschaffung von Rüstungsgütern »bevorzugt« finanziert werden. Das soll gegen den Protest antimilitaristischer Netzwerke auch unter Nutzung des EU-Haushalts erfolgen. PESCO wird den gemeinsamen Binnenmarkt vielfach berühren. So haben Forderungen nach »Entbürokratisierung« der Bewegungsfreiheit der Truppen innerhalb der EU derartige Folgen. Im Gespräch ist ein »militärischer Schengenraum« durch Aufhebung administrativer Hindernisse für grenzüberschreitende militärische Mobilität, für die Bewegung der Streitkräfte - faktisch zugunsten des »Ostaufmarschs« der NATO. Dafür werden für Infrastrukturprogramme vorgesehene Finanzmittel eingesetzt.

Die PESCO-Konstruktion sieht neue Verknüpfungen zwischen EU und NATO-Ländern sowie den neutralen Mitgliedern Finnland, Irland, Malta und Österreich vor. Letztere können von Fall zu Fall in Projekte eingebunden werden. So wird ein über die Teilnehmer hinausgehendes Geflecht militärischer und rüstungswirtschaftlicher Bindungen innerhalb der Union gefördert. Über die Beteiligung von Drittstaaten außerhalb der EU soll im Laufe des Jahres entschieden werden. Diese Problematik wird auch Großbritannien betreffen.

Bei all dem spielen die Berliner Regierungen, die sich seit langem nachdrücklich für die Wahrnehmung von mehr sicherheitspolitischer und militärischer »Verantwortung« Deutschlands im Weltgeschehen aussprechen, eine entscheidende Rolle. Damit ist nicht nur eine maßgeblichere zivile Funktion in den internationalen Beziehungen gemeint, sondern das zielt auch auf eine gewichtigere militärische Rolle der Bundesrepublik. Sie ist die dominierende europäische Zentralmacht, deren Einfluss sich im letzten Jahrzehnt nicht nur ökonomisch und politisch, sondern auch in militärischer Hinsicht gravierend erhöht hat. Mit dem britischen EU-Austritt - dessen Konsequenzen noch nicht übersehbar sind - wird Deutschland noch eindeutiger zur führenden Wirtschaftsund Finanzmacht. Für eine effektivere militärische Kooperation in der EU sollten mit dem Ziel einer »Europäischen Verteidigungsunion« Weichen gestellt werden. Dazu wurden Konzepte für eine Rolle Deutschlands als militärische »Führungsnation« ausgearbeitet, propagiert und partiell umgesetzt. Auch auf diesem Gebiet müsse die Bundesrepublik zu Europas »Anführer« werden, heißt es in einer Studie der Friends of Europe (Paul Taylor). Sie müsse noch mehr zum Magnet für kleinere Nachbarländer werden. Dabei wird dem Konzept der »Rahmennation« gefolgt, wonach Streitkräfte von Nachbarstaaten mit der Bundeswehr kooperieren - unter deutscher Kontrolle. Durch PESCO wird sich die Bundesrepublik noch mehr als Mittelpunkt europäischer Verteidigung konstituieren. Für die maßgeblichen Eliten muss Deutschland aus dem langen »Schatten der Vergangenheit« treten. Blockaden müssten beseitigt werden, die aufgrund der faschistischen Vergangenheit einer interventionistischen Sicherheitspolitik, einer weitreichenden Militärintegration, einer unbeschränkten Rüstungskooperation sowie ungehinderter Rüstungsexportpolitik entgegenstehen.

Die Reaktionen in benachbarten Ländern sind widersprüchlich. Einerseits werden »deutsche Verantwortung« und Tatkraft beschworen, andererseits sind Unbehagen und Sorgen über deutsche Führungsansprüche und deutsches Potenzial unüberhörbar. Für manche Nachbarn ist ein deutsch geprägtes Europa nicht zumutbar. Der ehemalige Außenminister Gabriel vermerkte mit Blick auf Steigerungen des Verteidigungsetats: »Glauben wir wirklich, dass unsere europäischen Nachbarn es nach zehn Jahren so gut finden werden, dass in Deutschland eine gewaltige zentraleuropäische Armee entsteht?«

Inwieweit durch PESCO ein neues Kapitel in der Integrationsgeschichte aufgeschlagen wird, muss sich noch herausstellen. Die Militarisierung der EU und die Aufrüstung werden auf jeden Fall vorangetrieben. Der militärisch-industrielle Komplex wird gestärkt. Zugleich zeichnen sich mannigfache Interessengegensätze und Hindernisse ab. Weitere Gewichtsverlagerungen zugunsten Deutschlands und Frankreichs sind absehbar, deren Wechselbeziehungen werden jedoch nicht unbelastet bleiben. Ein deutsch-französisches Kerneuropa nimmt Gestalt an. »Wer nicht unter den deutsch-französischen Vorgaben mitrüstet, der wird sich künftig am Katzentisch der EU-Militärpolitik wiederfinden«, heißt es in einer Einschätzung der Europäischen Linken. »Das mag kurzfristig den Machtansprüchen in Berlin und Paris dienen, langfristig wird sich PESCO aber als ein weiteres Element erweisen, das den Fliehkräften in der EU weiter Rückenwind verleihen wird.« Konflikte sehr unterschiedlicher Art und Bedeutung werden zutage treten. Das betrifft: verschiedenartige Zielvorstellungen und Konzepte; das Verständnis von »strategischer Autonomie« und der Bündnisbeziehungen zu den USA, von einer EU als militärisch eigenständiger Akteur, der aber kooperativ und arbeitsteilig mit den USA in der Globalstrategie der NATO agiert; außenpolitische Unterschiede und Traditionen - Bereitschaft zu militärischem Engagement außerhalb Europas; Differenzen zwischen ost-, westund südeuropäischen Mitgliedern; die Konkurrenz europäischer Rüstungsgiganten; Fragen technologischer Souveränität; das Verhältnis zu Großbritannien und speziell die britische Beteiligung an Rüstungsprojekten.

Sicher wird sich auch der Gegendruck verstärken müssen. Einer weiteren Militarisierung der EU stellen sich jene Kräfte entgegen, die eine zivile Union vor Augen haben. Demokratische und parlamentarische Teilhabe und Mitentscheidung werden angemahnt. Antikriegsbewegungen wenden sich gegen EU-Interventionen, setzen sich für die Kontrolle von Rüstungskooperation ein und widersetzen sich Versuchen, Exportrestriktionen für Rüstungsgüter zu lockern. Speziell stößt der Einsatz von EU-Mitteln zur Förderung militärischer Technologien auf Widerstand.

Zentrales Anliegen muss eine strategische Umorientierung der Europäischen Union in Richtung einer neuen Ostund Entspannungspolitik sein. Das erfordert Engagement für eine auf den gesamten Kontinent ausgerichtete und Russland einbeziehende Europapolitik, für eine gesamteuropäische Struktur für Sicherheit und Zusammenarbeit. Auch dafür muss die immer wieder beschworene »Übernahme von Verantwortung« eingefordert werden. Auch dies gehört dazu, wenn über die Perspektiven von PESCO künftig diskutiert wird

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