Der Rüpel und die braven Kleinen

Bange Frage in Europas Hauptstädten: Was macht Trump aus dem NATO-Gipfel?

  • René Heilig
  • Lesedauer: 7 Min.

Manch Grundschüler wird wohl am ehesten verstehen, wie sich manche europäische NATO-Mitglieder jetzt fühlen. Da kommt plötzlich ein geistig nicht gerade hochbegabter, aber an Statur und Körperkraft deutlich überlegener Mitschüler in die Klasse. Der Rüpel lebt seine Dominanz aus. Jeder, der sich seinem Blickfeld entziehen kann, tut es. Andere reden ihm nach dem Munde, sind froh, wenn sich der »Neue« andere als Prügelknaben auswählt.

Man muss nicht lange rätseln, wem sich der US-Präsident auf diese Art beim NATO-Treffen in Brüssel nähern wird. Angela Merkel erschien ihm bereits bei seinem Amtsantritt nicht unterwürfig genug. Im April, bei Merkels Kurzbesuch in Washington, hat sich der Eindruck verstärkt und noch immer will die deutsche Kanzlerin nicht akzeptieren, dass er, Trump, den »Mitschülern« klar macht, wo es in der Handels-, der Asyl- sowie in der Außen- und Sicherheitspolitik langgeht.

Wie sich Zeiten gleichen

Der US-Vizeaußenminister und gelernte Bankier Douglas Dillon ließ bei einer Rundreise durch die NATO-Staaten keinen Zweifel daran, dass die Verbündeten eine ernsthafte Schwächung der Europa-Verteidigung in Kauf nehmen müssten, falls sie nicht willens seien, ihren militärischen Beitrag zu erhöhen. Die Forderung aus Washington lautete: Verstärkt die Landstreitkräfte!

Zuvor hatte der Finanzminister seinen Präsidenten davor gewarnt, dass die Unterhaltung kostspieliger Truppen in Europa Gift für den US-Haushalt sei. Wenn er die Vormachtstellung der USA behaupten und nicht pro Jahr ein Haushaltsdefizit von drei Milliarden Dollar akzeptieren wolle, müsse er die Kosten für die US-Truppen in aller Welt senken und andere zur Kasse bitten. Da Wahlen anstanden, fügte sich der Präsident. Er hieß Dwight David »Ike« Eisenhower, man schrieb das Jahr 1959, der Kalte Krieg lief sich gerade warm und Ähnlichkeiten zur Gegenwart sind wohl nicht ganz zufällig. hei

Innenpolitisch ist Merkel vor allem durch den Dauerstreit mit der CSU angeschossen. Die schwächelnde SPD kann als Regierungspartner kaum Rückendeckung geben, zumal deren Außenminister allzu farblos ist. Die Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) steht zwar getreu zur Regierungschefin, doch auch ihre Position ist fragil. Seit Amtsantritt 2014 kämpft sie mit Ausrüstungs- und Personalproblemen in der Bundeswehr. Zu allem Überfluss hat die AfD-Rechtsaußenopposition in Deutschland an Kraft zugelegt. Die USA äußern sogar via Botschafter in Berlin sehr direkt ihre Sympathie für die Erzkonservativen.

Wolfgang Ischinger, Chef der Münchener Sicherheitskonferenz, war wenig diplomatisch, als er jüngst erklärte, er habe »schlimmste Befürchtungen« und »richtig schlechte Träume«, wenn er an den bevorstehenden NATO-Gipfel denkt. Es scheint so, »als sei derzeit nichts so, wie es einmal war oder sogar wie es eigentlich sein sollte«. Er macht sich Sorgen darüber, wie wohl das Signal sein werde, das die Allianz insbesondere in Richtung Moskau aussenden will. Auch, weil ja ein Gipfel bevorsteht, bei dem sich Trump mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin über die weitere Entwicklung in den Beziehungen der beiden Mächte sowie über Rüstungskontrolle verständigen will.

Welche Rolle spielt dabei die NATO - so sie der US-Präsident überhaupt im Kalkül hat?

Eigene, auf Entspannung gerichtete Initiativen will das nordatlantische Bündnis gegenüber Russland nicht ergreifen. Auch andere Themen wird man beim NATO-Treffen aussparen. Beispielsweise den Konflikt um das Atomabkommen mit Iran, das Trump einseitig gekündigt hat.

Stattdessen werden die Europäer versuchen, Themen, in denen Konsens besteht, nach vorne zu rücken. Dazu gehören die verbesserte Zusammenarbeit zwischen NATO und EU und Veränderungen bei der Fähigkeit, Nachschub schneller als bislang an Brennpunkte zu transportieren. Unstrittig ist auch die wieder stärkere Fokussierung auf die sogenannte Bündnisverteidigung. Doch schon bei der beabsichtigten Erhöhung der Einsatzbereitschaft gibt es Unklarheiten. Die NATO hatte sich beim Gipfel in Wales 2014 auf eine Speerspitze als Teil des »Readiness Action Plans« geeinigt. Innerhalb von 48 bis 72 Stunden will man an jedem Ort, wo NATO-Truppen benötigt werden, einsatzbereit sein. Auf Rotationsbasis stellen die Bündnismitglieder Truppen für diese Schnelle Einsatztruppe. Die Bundeswehr muss 2019 zum zweiten Mal eine führende Rolle übernehmen. Aus dieser Rolle heraus wird das Heer über verschiedene Zwischenstufen zunächst eine komplette, voll ausgestattete Division ableiten. Doch die Aufrüstung geht weiter. Gemäß der NATO-Streitkräfteplanung sagte Deutschland bis 2032 knapp 70 Maßnahmen zu. Schwerpunkt dabei ist, dass die Bundeswehr der NATO sogar drei einsatzbereite Heeresdivisionen mit je drei Brigaden zur Verfügung stellt. Allein dafür kalkuliert man im deutschen Verteidigungsministerium einen zusätzlichen Finanzbedarf von fünf Milliarden Euro pro Jahr.

Kurz vor dem Gipfel kam jedoch eine neue, aktuell umsetzbare »Four-Thirties-Initiative« über den Teich. Sie besagt, dass die NATO demnächst zusätzlich zur Speerspitze in 30 Tagen 30 Bataillone, 30 Flugzeugstaffeln und 30 Schiffe der Fregattenklasse verfügbar haben soll. Rechnet man mit einem zumeist zehnprozentigen deutschen Anteil, so wird klar: Damit ist die Bundeswehr total überfordert. Der im Verteidigungsministerium für Planung zuständige Brigadegeneral Gerald Funke sieht in der Initiative »eine neue Qualität, die wir bisher nicht akzeptiert haben, die nicht Teil des NATO-Planungsprozesses ist«. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der vor Jahren noch selbstbewusst ins Amt gekommen war, kuschte schneller und bestätigte vorab, man werde die Initiative während des NATO-Gipfels beschließen, um den Bereitschaftsgrad der NATO-Kräfte weiter zu erhöhen. Wie werden Merkel und von der Leyen reagieren?

Schon einmal hat die schwarz-rote Bundesregierung allzu leichtfertig genickt und vermutlich gedacht: Kommt Zeit, kommt Lösung. Nach der Besetzung der ukrainischen Krim durch Russland wollte die NATO Muskeln zeigen und beschloss auf Initiative des damaligen US-Präsidenten Barack Obama, dass jedes Land bis 2024 mindestens zwei Prozent seines Bruttoinlandsproduktes für das Militär ausgeben soll. Aktuell würde das für Deutschland bedeuten, dass sich der Militärhaushalt im Vergleich zum aktuellen auf rund 80 Milliarden Euro verdoppeln würde.

Der aktuelle US-Präsident fordert gnadenlos die Erfüllung der Verpflichtung ein. Vor wenigen Tagen schickte er Briefe an die Alliierten, in denen er sie unmissverständlich zur Erhöhung der Verteidigungsausgaben auffordert. Trump betonte: »Es ist zunehmend schwieriger, vor amerikanischen Bürgern zu rechtfertigen, warum einige Länder die kollektive Sicherheit der NATO nicht teilen.«

»Deutschland schuldet der NATO riesige Summen, und die Vereinigten Staaten müssen besser für ihre mächtige und kostspielige Verteidigung bezahlt werden, die sie Deutschland bieten!« Das hatte Trump nach einem Treffen mit Merkel in alle Welt getwittert. Nun schrieb der America-first-Man, der die zwei Prozent für eine Bringschuld der Verbündeten gegenüber den USA betrachtet, sogar Briefe an die Verbündeten. Der an Merkel ist nach Angaben von US-Diplomaten in einem besonders scharfen Ton abgefasst.

Dass Deutschland diese zwei Prozent für einen »Zielkorridor« hält und der NATO bis 2025 »nur« einen Anteil von 1,5 Prozent gemeldet hat, stachelte offenbar den Zorn des US-Präsidenten an. Offenbar hat das Weiße Haus beim Pentagon sogar eine Studie zum Abzug der US-Truppen aus Deutschland in Auftrag gegeben. Zumindest die Kampfeinheiten könnte man ja in Polen stationieren. Derartige Ideen sind zwar absurd und praktisch kaum zu bewerkstelligen, doch als Druckmittel ist die Studie bereits im Gespräch.

Wie die deutsche Verteidigungstaktik ausschaut, ließ Ministerin von der Leyen jüngst vor der in Berlin versammelten Auslandspresse erkennen. Man will weg von Zahlenspielen und die Bedeutung Deutschlands im und für das Bündnis gewürdigt wissen. Freilich könne man, so von der Leyen, ohne Probleme zwei Prozent vom BIP für Verteidigung ausgeben und dennoch der NATO nichts zur Verfügung stellen. Oder sich nicht an Missionen beteiligen. Es ginge, so von der Leyen weiter, nicht um Bargeld, sondern um Beiträge. Sie verwies darauf, dass Deutschland zweitgrößter Truppensteller der NATO insgesamt und zweitgrößter Truppensteller im Afghanistan-Einsatz sowie auch zweitgrößter Netto-Zahler für die NATO-Kommandostrukturen sei. Den Einwurf, das alles werde Trump wohl kaum beeindrucken, konterte die Ministerin damit, dass man ja auch niemanden beeindrucken wolle.

Merkel hat in den vergangenen Wochen immer wieder über die Notwendigkeit einer auch in Zukunft einsatzbereiten und für den Einsatz ausreichend ausgerüsteten Bundeswehr betont. Sie bekannte sich zu der NATO-Gipfelerklärung von 2014 und betonte, man bewege sich auf die zwei Prozent zu. Dabei weiß auch sie, dass Prognosen auf ein wachsendes BIP verweisen, was das Zwei-Prozent-Ziel noch absurder erscheinen lässt.

Wer so erkennbar unredlich agiert, wird beim Gipfel doppelte Prügel einstecken, mutmaßen selbst Merkel-Freunde. Man ahnt, dass die deutschen Vertreter, um ein halbwegs solidarisches Gipfelresultat zu ermöglichen, wieder faule Kompromisse eingehen. Aber vielleicht gibt es ja gar keine Beschlüsse, vielleicht verliert Trump. Vielleicht steigt er - wie beim jüngsten G7-Treffen - einfach in seine Air Force One und twittert, dass von ihm aus Europa im Stillen Ozean versinken kann ...

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -