Harzfeuer brennt seit 60 Jahren

Sachsen-Anhalt: Im Tomatengarten von Aschersleben geht es in diesem Jahr ums DDR-Erbe

  • Uwe Kraus, Aschersleben
  • Lesedauer: 4 Min.

Eine kleine, eierförmige Romatomate krönt das Mahl in der »Astroklause«, einem Restaurant in Aschersleben (Sachsen-Anhalt). Und was tut Gisela Ewe? »Ich hab’ mir den Samen rausgekratzt, die Tomate aufgegessen und die Kerne ausgesät.« Die 72-Jährige lacht, wenn jemand sie als Tomatenkönigin bezeichnet, bestätigt aber: »Ich liebe Tomaten in allen Farben und Formen - runde, birnenförmige, johannisbeerkleine, dicke, dünne, Mini- und Riesenexemplare.«

In ihrem Berufsleben hatte die Agrarwissenschaftlerin wenig mit dem Gemüse zu tun gehabt. Vor einigen Jahren schaute sie mal im Supermarkt, was es da an Tomatensorten gab. »Das schien etwas dürftig - fünf, sechs Sorten, obwohl die Zahl weltweit fünfstellig ist.« Sie begann Samen zu sammeln und Pflanzen der »Liebesäpfel«, wie sie auch genannt werden, im Garten zu ziehen.

Ihre Hausärztin brachte ihr fünf Sorten aus ihrer ukrainischen Heimat mit, eine Vietnamesin ließ sich von ihrem Vater Samenkörner schicken und unterdessen hat Gisela Ewe »Tomatenbekannte« auch in Chile und im Baltikum. Ein Deutsch-Australier las von ihrer Leidenschaft in der Zeitung und sandte jetzt eine australische Sorte. »Die werde ich wohl im Frühjahr ernten«, meint Gisela Ewe.

An die 600 Sorten Saatgut besitzt sie, für den Nachschub kommen im Wechsel jährlich um die 200 in die Erde - jeweils zwei Pflanzen. Der Regionalverband der Kleingärtner stellte einen leer stehenden Kleingarten zur Verfügung, und dieses Jahr lädt Ewe am 1. September zum bereits 7. Tomatentag ein. Oft punktete sie in den Vorjahren bei den Besuchern mit Exotik: Gestreifte Rumänische, Tomaten, die ihre Farbe von Weiß auf Rot wechseln, Fuzzy Wuzzy, Baumtomaten, gleich daneben eine Menschenfresser-Tomate, die angeblich auf den Fidschi-Inseln Kannibalen dazu dienten, Menschenfleisch besser verträglich zu machen.

Doch in diesem Jahr soll es im Ascherslebener Tomatengarten mehr um den Begriff »bodenständig« gehen. Denn die Gegend im Regenschatten des Harzes herrscht ein trockenes, warmes Klima, das sich sehr gut für den Samenanbau eignet. Tatsächlich reicht die Geschichte der regionalen Tomatensorten auf dem Gebiet der früheren Länder Thüringen, Königreich Sachsen und der preußischen Provinz Sachsen mindestens in die 1870er Jahre zurück. Es gab Saatzuchtbetriebe in Erfurt, Eisleben, Aschersleben, Quedlinburg, aber auch kleine Gartenbaubetriebe wie in Pechau bei Magdeburg. »Wir wollen deshalb die Breite des Zuchtangebotes vor 1945, in der DDR und bis in die Gegenwart zeigen«, sagt die Tomatenexpertin. »Einbezogen haben wir auch einige Pflanzen aus dem Brandenburgischen.«

Ewe hatte sich einst 200 Sorten vom Leibniz-Institut für Genetik und Kulturpflanzenforschung in Gatersleben erbeten und leistet nun einen Beitrag zu deren Fortbestand. Dr. Rolf Bielau, Agrarwissenschaftler wie sie und Züchter, bedauert, dass viele Sorten verschwunden sind. Zusammen mit Gisela Ewe und den Gaterslebener Wissenschaftlern hat er für die diesjährige Tomatensaison im Ascherslebener Garten unter den Tausenden Saatproben gezielt nach mitteldeutschen und DDR-Sorten gesucht. Im Frühjahr konnte er 67 belegen. »Unterdessen sind wir bei 90. Gerade von Privatpersonen kamen weitere Sorten, die nicht in einer amtlichen Sortenliste verzeichnet sind«, ergänzt Tomaten-Gisela.

Die tragen Namen wie »Bodeglut«, »Eisleber Vollendung«, »Erntesegen«, »Harzer Kind« und »Müncheberger Frühtomate«. Bereits 1884 kam die gelbfrüchtige »Goldene Königin«, die bisher älteste bekannte mitteldeutsche Züchtung, in den Handel.

Gisela Ewe berichtet, dass sie fast täglich neue Informationen erhält. »Gerade erklärte uns Christoph Kleinhanns, erfolgreicher Züchter von Tomaten-Hybriden, dass die bekannte Sorte ›Matura‹ von der Firma August Haubner aus Eisleben stammt.« Kleinhanns selbst züchtete zwischen 1973 und 1997 21 Sorten, darunter »Nadja« und »Tamina«. 13 dieser Sorten beginnen mit »I« als Erkennungszeichen - Islebia war der lateinische Namen von Eisleben. Für den Erwerbsgartenbau schuf er Intakt, Isnova, Intensa und die samenfesten Itema und Impuls.

Doch die bekannteste und in der Region meistverkaufte Sorte ist »Harzfeuer«. Der Quedlinburger Dr. Friedrich Fabig schuf mit ihr die erste DDR-Hybridtomatensorte, die 1959 unter dem Namen »Prima Vera« zugelassen wurde. Auf Einspruch einer westdeutschen Saatgutfirma musste kurzfristig »über Nacht« ein neuer Name gefunden werden: »Harzfeuer«.

Gab es etwas Typisches bei den DDR-Tomaten? Gisela Ewe sagt, dass Tomatengarten-Gäste immer wieder die Vielfalt und den guten Geschmack der alten DDR-Sorten loben. Rolf Bielau erinnert sich an die Züchtungsziele: »Großer Ertrag, frühzeitige Reife und hohe Qualität.«

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