Sparen, sparen, nochmals sparen

Wie sich die Austerität als unumstößliches Prinzip in der politischen Praxis der Deutschlands festsetzte

  • Tino Petzold
  • Lesedauer: 6 Min.

»Dabei ist es eigentlich ganz einfach. Man hätte hier in Stuttgart, in Baden-Württemberg, einfach nur eine schwäbische Hausfrau fragen sollen. Sie hätte uns eine ebenso kurze wie richtige Lebensweisheit gesagt, die da lautet: Man kann nicht auf Dauer über seine Verhältnisse leben.«

Die Karriere der Lebensweisheit der schwäbischen Hausfrau ist erstaunlich: Nur wenige Monate nach dieser Rede von Angela Merkel auf dem Stuttgarter Parteitag der CDU wurde sie zum verfassungsrechtlich festgeschriebenen Leitbild staatlicher Finanzpolitik. Denn mit der Verfassungsreform im Sommer 2009 wurde die Schuldenbremse konstitutionalisiert und damit das Staatsschuldenrecht in der BRD zum ersten Mal seit 40 Jahren grundlegend verändert. Hieß es früher, dass Staatsverschuldung ein notwendiges Mittel zur staatlichen Bearbeitung gesellschaftlicher Krisenmomente sei, so gilt fortan die Devise, dass der Staat nicht mehr qua Verschuldung »über seine Verhältnisse leben« soll und folglich die schwarze Null als Königsweg der Finanzpolitik.

Doch damit war die Karriere der Lebensweisheit der schwäbischen Hausfrau zum finanzpolitischen Leitbild nicht beendet: »Ich meine, wir haben uns in Deutschland, weil wir uns ja offensichtlich selbst auch nicht richtig getraut haben, eine Schuldenbremse in das Grundgesetz geschrieben und haben gesagt, wir wollen ein für alle Mal sicherstellen, dass nicht ein Wahlkampf oder irgendeine Ausnahmesituation wieder eine Ausrede ist. Und nichts anderes machen wir jetzt in Europa.« (Angela Merkel 2012)

Die Richtschnur, dass auch andere EU-Staaten nicht über ihre Verhältnisse leben, wurde zum Kern der Bearbeitung der Euro-Krise. Spätestens mit dem Fiskalpakt 2013 war dieses Leitbild auch rechtlich durchgesetzt und die Europäische Kommission verkündete den Vollzug: Alle unterzeichnenden Mitgliedsstaaten haben »verbindliche und dauerhafte Regeln für einen ausgeglichenen Haushalt in ihren innerstaatlichen Rechtsordnungen niedergelegt. Einige Vertragsparteien mussten für die Übernahme dieser Änderungen die Verfassung ändern, während andere alternative Formen eines verbindlichen Rahmens entwickelt haben. Im Einklang mit den Anforderungen ... werden diese nationalen Vorschriften durch Korrekturmechanismen gestützt, die automatisch ausgelöst werden, wenn erhebliche Abweichungen auftreten, sowie durch unabhängige nationale finanzpolitische Institutionen, die über ein angemessenes Überwachungsmandat verfügen. Auf diese Weise wurden unabhängige Gremien geschaffen oder in sinnvoller Weise gestärkt, die in der Lage sind, in nationalen öffentlichen Debatten über die Haushaltspolitik eine immer wichtigere Rolle zu spielen.« (Europäische Kommission 2017)

Innerhalb weniger Jahre war damit aus der Lebensweisheit ein bis tief in die Verfassungen und öffentlichen Debatten eingeschriebener, institutionalisierter Rahmen geworden, der Abweichungen vom Leitbild des ausgeglichenen Haushalts »überwacht« und gegebenenfalls das Leben über den Verhältnissen »korrigiert«.

Diese institutionell-rechtliche Verdichtung der schwäbischen Lebensweisheit, so problematisierte 2011 die Nichtregierungsorganisation Corporate Europe Observatory in einer Kurzstudie unter dem Titel »Austerity Forever«, bringt »die Mitgliedsstaaten auf einen Kurs in Richtung des Leitbilds permanenter Austerität, umfangreiche Angriffe auf soziale Rechte eingeschlossen« (Corporate Europe Observatory, 2011). Während in der bundesdeutschen Debatte Austerität in der Regel mit den massiven Sparprogrammen in Griechenland, Irland, Portugal und Spanien verbunden wird, betont die Studie, dass die Neuregelungen »anhaltende Austerität für alle Mitgliedsstaaten« bringen.

Vor diesem Hintergrund lässt sich der Ausgangspunkt umreißen, von dem die folgende Untersuchung startet: Auch in der BRD haben wir es spätestens seit Schuldenbremse und Fiskalpakt mit anhaltender - bzw. in dem folgend verwendeten Begriff: normalisierter - Austerität zu tun, die durch ein rechtlich festgeschriebenes und mehrere geografische Maßstabsebenen übergreifendes Korsett der Haushaltsdisziplin hergestellt wird. Das lässt sich anhand eines kurzen Einblicks in die

Debatten hierzulande weiter illustrieren. So heißt es in einer Pressemitteilung des Stabilitätsrats, der 2009 als Teil der Schuldenbremse eingerichtet wurde und im Rahmen des Fiskalpakts das nationale »Überwachungsmandat« ausfüllt: »Der Stabilitätsrat stellt fest, dass zur Einhaltung der neuen Schuldenregel Bund und Länder noch erhebliche Konsolidierungsanstrengungen werden leisten müssen. Die aktuell sich aufhellende Konjunkturlage ändert nichts an dieser Notwendigkeit.« (Stabilitätsrat 2010)

Es geht also auch in der BRD darum, »Anstrengungen« zu unternehmen und den Staatshaushalt auszugleichen. Dabei erweist sich, dass das Niveau der Staatseinnahmen im Rahmen der aktuellen gesellschaftlichen (Kräfte-)Verhältnisse nur in beschränktem Maße und unter hohem Aufwand politisch zu erhöhen ist. Und die Erfahrung zeigt, dass die neoliberalisierte Steuerpolitik der letzten Dekaden im Gegenteil eher Einnahmeausfälle produziert. Vor diesem Hintergrund richtet sich das Augenmerk solcher »Anstrengungen« vor allem auf die Staatsausgaben. Und so ist es nicht verwunderlich, dass beispielsweise die Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers in einem »Länderfinanzbenchmarking« zwar betont, dass »Einsparungen nicht zwingend auf Leistungskürzungen« hinauslaufen - gleichwohl zeigt sich die ungleiche Geografie der normalisierten Austerität, wenn angeschlossen wird, dass »in einigen Bundesländern Leistungskürzungen nicht zu vermeiden sind Am größten ist die Herausforderung im Saarland. Hier muss die öffentliche Hand ihre Ausgaben pro Jahr und Einwohner um 3,3 Prozent senken, in Bremen sind es 2,6 Prozent und in Hessen sowie in Sachsen-Anhalt immerhin noch 1,4 Prozent.« (Höhn/Detemple 2013)

Dass solche »Anstrengungen« im Rahmen normalisierter Austerität tatsächlich unternommen werden, dafür sorgt nicht nur der Verfassungsrang der Schuldenbremse, sondern auch das Überwachungsmandat des Stabilitätsrates. So hielt dieser etwa der Argumentation des Bundeslandes Bremen, dass trotz optimistischer Prognosen und umfangreichster »Anstrengungen« der Sanierungspfad vor dem Hintergrund der hohen Kosten im Zuge des Sommers der Migration nicht eingehalten werden könne, zunächst einen »blauen Brief « entgegen, um schließlich die daraufhin nachgereichte Erweiterung des Sparprogramms zu kommentieren: »Bremen ist der Aufforderung des Stabilitätsrates vom 8. Juni 2016 zur Ergreifung zusätzlicher Konsolidierungsmaßnahmen nachgekommen. Die von Bremen in seinem Bericht dargestellten Maßnahmen reichen jedoch nicht aus, um die vereinbarte Obergrenze der Nettokreditaufnahme im laufenden Jahr einzuhalten.« Verbunden war mit dieser Feststellung die Drohung, dass die Konsolidierungshilfen für Bremen in Höhe von 300 Millionen Euro jährlich zukünftig nicht mehr ausgezahlt werden - hergestellt wurde mithin nicht nur ein diskursiver, sondern ein sanktionsbewährter Handlungsdruck zu verstärkten »Anstrengungen«.

Gleichwohl beschränkt sich normalisierte Austerität hierzulande nicht darauf, dass ein Sparprogramm das nächste jagt. Die Disziplinierung der öffentlichen Haushalte setzt schon präventiv an, bevor es »zu spät« und die Notwendigkeit zum Sparen entstanden ist. In der präventiven Form wirkt normalisierte Austerität auch unter Bedingungen relativer Prosperität, sei es in den reichen Bundesländern oder aktuell für den Bund. Unter diesen Bedingungen finden politische Projekte und insbesondere solche, welche die Situation der gesellschaftlich Benachteiligten zu verbessern suchen, ein schwieriges Terrain vor. So wurde der Initiative des Berliner Mietenvolksentscheids, die unter anderem mehr öffentliche Mittel für die Bereitstellung bezahlbaren Wohnraums zur Bearbeitung der Wohnungsfrage forderte, vom Finanzsenator Berlins, Matthias Kollatz-Ahnen, entgegen gehalten: »Berlin ist mit der Schuldenbremse in einer neuen Situation ... Ausgaben in einem Bereich haben also automatisch Konsequenzen für die Ausstattung anderer Bereiche. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die überproportionale Berücksichtigung eines Anliegens zwangsläufig auf Kosten anderer, ebenso wichtiger Themen geht.«

Normalisierte Austerität wirkt also, auch ohne dass unmittelbar gespart werden muss, indem die Durchsetzung progressiver Projekte zu Lasten anderer geht oder generell der Ausbau der staatlichen Sicherung sozialer Rechte problematisiert wird.

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