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See und Seele
Der Skutari ist der größte See des Balkans und, so eine Britin, «einfach genial».
Es lächelt der See, er ladet zum Bade.« So lässt Schiller in seinem »Tell« gleich zum Auftakt einen Fischerjungen singen. Doch die Verlockungen des Sees sind nicht nur die für die Haut, sondern - womit sich dieser Satz hier fast von ganz allein weiterschreibt - auch für die Seele. Da ist es kaum verwunderlich, dass sogar das etymologische Wörterbuch auf die gemeinsamen Wurzeln von See und Seele verweist.
Die Anziehungsmacht des Sees auf uns ist also archaisch, und sie ist meist proportional zu dessen Größe. Die touristische Realität an Balaton, Genfer See oder Bodensee, die drei größten in Mitteleuropa, scheint dafürzusprechen. Am Skutarisee, dem größten der gesamten Balkanhalbinsel, den sich Montenegro und Albanien teilen, ist es noch ruhiger. Doch um es gleich vorwegzunehmen: Wer mit Leib und Seele noch nicht dort war, hat in seinem Reiseleben bislang etwas verpasst.
»Wir haben in unseren Regionen hier wirklich viele Naturedelsteine zu bieten«, versichert Vesna Sekulić, die für die Tourismusverwaltung in Podgorica, die montenegrinische Hauptstadt, arbeitet. »Doch ich sage immer, dass der Skutarisee darunter wie ein Diadem ist. Das bemerken zunehmend auch die Leute aus dem Westen.«
Von Mitteleuropa aus kommt man dem Skutari schnell am nächsten, wenn man nach Podgorica fliegt. Wir haben dann dort einen Mietwagen gechartert. In Vipazar am See treffen wir ein Paar aus dem englischen Bristol, für das dies alles längst kein Geheimtipp mehr ist, »aber letztlich wohl immer noch Geheimnisse verbergen wird«, wie Alice Richardson vermutet. Sie und ihr Mann Neil standen in Ex-Jugoslawien jahrelang im Dienst der EU-Entwicklungshilfe. Als Pensionäre sind sie nun Dauerresidenten am Skutari.
»Dieser See ist schlicht genial«, sagt Alice, »nah und unnahbar, dauernd neu zu entdecken, nie zu entschleiern, jeden Tag anders.« Der Ort selbst war, ergänzt Neil, eher zufällige Liebe auf den zweiten Blick. »Vor allem die Menschen tun uns gut«, meint er. Und warum? »Nun, das sind ziemlich beständige Leute hier. Die geben sich in einer für uns beruhigenden Weise recht wenig dem Zeitgeist hin. Ein Haus ist ein Haus, ein Wort ein Wort, ein Schnaps ein Schnaps. Wo gibt es so etwas noch?«
Die Erkenntnis ist nicht neu, aber rumgesprochen hat sie sich in Europa bis heute noch nicht nachhaltig. Johann Georg Kohl, Ethnograf und Reisebuchautor, hatte es schon vor 150 Jahren geschildert, dieses »beständige, zur Eigensinnigkeit neigende Volk, für das ein Wort die Ehre bedeutet«. Und auch der See beflügelte den ansonsten eher akribischen Kohl zur ausschweifenden Schilderung der »ungewöhnlichsten und prachtvollsten Ausblicke«.
Damals war das Südufer, das heute übrigens von der Eisenbahnlinie von Belgrad nach Bar an der nahen Adriaküste berührt wird, noch osmanisches Einflussgebiet. Montenegro wurde erst 1878 eigenständiges Fürstentum. Heute sind laut Statistik rund 90 Prozent der Einwohner christlich-orthodoxen Glaubens, vier Prozent Muslime.
Von denen leben etliche um den Skutari. In Boboviše, ein Dorf ganz knapp vor der Grenze zu Albanien, sind fast alle Sunniten. Einen Fischer, er heiße Xhevair, sagt er, fragen wir, wie er denn auf dem riesigen See den Grenzverlauf immer sicher im Blick habe. »Ich brauche da nur zwei Punkte«, meint er verschmitzt, »und einer der Punkte bin ich. Das reicht.« Wie das denn so schlicht funktioniert? »Berufsgeheimnis!«, lacht er. »Wer das so nicht kann, fängt wenig und sich mitunter Ärger ein.«
Über den Grenzkontrollpunkt Sukobin / Muruqan fahren wir rüber ans albanische Skutari-Ufer. Das erste Dorf dort heißt Zogaj. Wie überall rund um den gesamten See gilt auch hier Karpfen als die Fischspezialität. In jeder Variante ist er delikat; das soll das saubere Bergquellwasser machen, das den See speist. Aber er hat zumindest ideell auch einen sehr bitteren Beigeschmack. Nämlich wegen der Raubfischerei mit Speeren, Strom und Handlampenlicht in der Nacht. Es gibt in beiden Ländern inzwischen zwar strenge Gesetze dagegen. Es sei aber hier wie dort wegen der Korruptionsverflechtung »schwerer, einem Schwarzfischer das Handwerk zu legen, als einen Drogenhändler zu schnappen«. Meint jedenfalls Ivan Sadenović, Journalist bei »Vijesti«, einer der wenigen montenegrinischen Tageszeitungen.
Shkodër, nur etwa 15 Kilometer von Zogaj entfernt, gab einst nicht nur dem See den Namen. Es ist heute mit rund 100 000 Einwohnern auch die drittgrößte Stadt Albaniens. Klettert man zur Festung Rozafa hoch, hat man einen einmaligen Blick auf die Seezuflüsse aus dem schon greifbar nahe liegenden alpin-schroffen Prokletijegebirge.
Rozafa hieß übrigens eine sagenhafte junge Frau. Sie soll von ihrem Mann und dessen beiden Brüdern auf Druck eines Schamanen eingemauert worden sein, damit die Festungsmauern stabil blieben. Sie hätten allerdings ein Loch gelassen, durch das sie ihr Baby noch ein Weilchen stillen konnte, berichtet die grausame Mär. Und tatsächlich ist neben dem Festungstor ein Loch aus dem immer noch ab und an etwas Milchiges rinnt. Der Mann, der Eintrittskarten zur Burg verkauft, weist unsere lockere Annahme, dass das doch nur Karstwasser sein könne, barsch zurück. In Miene und Ton liegt Unverständnis, dass man da an alten Wahrheiten rüttele. Nicht nur den Montenegrinern, auch den Albanern entlang des Skutarisees scheint der eigensinnig-konservative Zug eigen zu sein.
Von Shkodër aus nördlich kommt man bald in eine kilometerlange fruchtbare Uferebene mit dem bunten und sichtlich florierenden Städtchen Koplik mittendrin. Nicht weit ist es nun zur Grenze zurück nach Montenegro. Dort dann, schon unweit vor Podgorica, geraten wir unversehens in den alljährlichen internationalen Marathonlauf. Die beiden Ersten waren aus Kenia, lesen wir anderentags in der Tageszeitung »Dan«. Sieger Abel Rop, heißt es weiter, freue sich sehr über seinen Sieg, und Siegerin Rebby Kech freue sich besonders auf den abschließenden Ausflug zum Skutarisee.
Infos
Nationale Tourismusorganisation Montenegro: www.montenegro.travel/de
Tourismus-Association Visit Albania: www.albania.al
Literatur:
Achim Wigand, »Montenegro«, Michael Müller Verlag, 2017, 294 S.
Renate Ndarurinze, »Albanien«, Trescher Verlag, 2018, 400 S.
Johann Georg Kohl, »Reise nach Dalmatien und Montenegro«, Rütten & Loening, 1987, 538 S.
Magarditsch Hatschikjan und Stefan Troebst, »Südosteuropa. Ein Handbuch«, C. H. Beck, 1999, 570 S.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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