- Kommentare
- Türkische Währungskrise
Sitzen wir alle im selben Boot?
Yücel Özdemir darüber, wer die Folgen der türkischen Finanzkrise zu tragen hat
Seit Beginn der gegenwärtigen Finanzkrise in der Türkei betonen der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan und sein Team, dass »wir alle im selben Boot« säßen. Forderungen, die Rechnung für diese Krise möge die Regierung zahlen, wurden umgehend mit der Botschaft »Aber wenn das Schiff sinkt!« unterdrückt.
Schon im Vorfeld der vorgezogenen Wahlen vom 24. Juni war offensichtlich, dass die Krise kommen würde. Die Opposition hatte von Beginn an die Vermutung geäußert, dass dies der Hauptgrund für das plötzliche Vorziehen des Wahltermins war. Erdoğan wusste, dass die Krise die Wahlen zu dem eigentlich für November 2019 geplanten Termin für ihn negativ beeinflusst hätte.
Obgleich klar ist, dass diese Krise unabhängig von den neuesten Spannungen mit den USA - wegen des in der Türkei inhaftierten US-Pfarrers Andrew Brunson - ist, behauptet Erdoğan seit Tagen, die wahre und einzige Ursache der Krise seien Donald Trumps Erklärungen. Und die meisten Menschen, die für Erdoğan gestimmt haben, glauben ihm.
In einem Land, das unter Wirtschaftskrisen, hohen Lebenshaltungskosten, Arbeitslosigkeit und Armut leidet, ist es normalerweise an den Gewerkschaften, den Oppositionsparteien und anderen Initiativen, zu protestieren und zu versuchen, so die Politik der Regierung zu ändern.
In der Türkei hingegen gibt es bislang keine Anzeichen für eine Protestbewegung, deren Forderung es ist, dass die Rechnung für die Krise von Kapital und Regierung gezahlt werden soll. Die meisten dahingehenden kritischen Äußerungen gab es in den sozialen Netzwerken. Die Regierung, dadurch beunruhigt, sperrte sofort Hunderte von Konten und leitete Untersuchungen ein. Was blieb, waren nur tragisch-komische, die Regierung unterstützende Aktionen, die sich gegen die USA richteten - wie das Zertrümmern alter iPhones mit Vorschlaghämmern. So wie im vergangenen Jahr, als wegen der diplomatischen Krise zwischen der Türkei und den Niederlanden von Erdoğan-Unterstützern Orangen ausgequetscht wurden.
Ein Grund fürs Ausbleiben starken Protestes durch die Opposition besteht sicherlich in der Demoralisierung durch das Wahlergebnis. Aber der Hauptgrund ist, dass Erdoğan eben die Krise mit den USA, mit »äußeren Mächten« und »Wirtschaftskrieg« begründet. Vor diesem Hintergrund wird jeder Protest als »US-Kollaboration«, als Werk von »Handlangern äußerer Mächte« oder als Aktion von »Putschisten« abgestempelt.
Die beiden großen Gewerkschaftsdachverbände DISK und KESK kritisieren die neoliberale Politik, die der Präsident als Reaktion auf die Krise verfolgt. »Wir sitzen nicht alle im selben Boot«, sagen sie. Doch haben sie bislang keinen konkreten Aktionsplan präsentiert. Ähnliches gilt auch für die linken Parteien innerhalb und außerhalb des Parlaments.
Es kann jedoch einen Weg geben, sowohl die Wirtschaftspolitik Erdoğans als auch die - zum Teil ja tatsächlich bestehende - US-amerikanische Verantwortung für die Krise zu bekämpfen: Eine Politik, die sich auch gegen die ökonomischen, politischen und militärischen Vorgaben der USA an die Türkei richtet, könnte einigendes Moment einer neuen sozialen Bewegung sein.
Obwohl unter Druck geraten, scheint Erdoğan immer noch Spielräume zu haben, und zwar vor allem, weil er international neue Bündnisse schmiedet. Die Tatsache, dass Deutschland und Frankreich bereit sind, die Beziehungen in dieser schwierigen Zeit zu normalisieren, verlängert nicht nur Erdoğans politisches Leben, sondern eröffnet auch den Weg für eine weitere Diktatorisierung des Regimes. Deutschland trägt damit mehr noch als zuvor Verantwortung für das, was in der Türkei geschieht. Aus diesem Grund ist es höchste Zeit, den Druck auf die Bundesregierung vor Erdoğans für September geplanten Berlin-Besuch zu erhöhen und einen Politikwechsel gegenüber der Türkei zu fordern.
Aus dem Türkischen von Nelli Tügel
Der Text kann in einer türkischen Fassung hier gelesen werden.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.