Mit Kugel und Schraubenzieher

Bei der EM in Berlin wird deutlich, wie sehr sich der Para-Sport weiterentwickelt hat

Der Schraubenzieher ist eines der wichtigsten Hilfsmittel beim Kugelstoßtraining von Martina Willing: Mit vier Gurten festgezurrt sitzt die Kugelstoßerin am Freitag auf dem Wurfstuhl der Para-Leichtathletik-EM in Berlin und stößt die 3-Kilo-Kugel mit einem lauten Schrei in den Berliner Himmel auf den Rasen des Trainingsplatzes neben dem großen Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark in Berlin Prenzlauer Berg. Am Sonntag will die Cottbuserin beim Kugelstoßen der Startklasse F56 um die Medaillen werfen, heute macht sie nur ein paar lockere Stöße. Auf Technik kommt es an. Und saubere Abläufe, schließlich achten die Kampfrichter hier bei der EM peinlich genau darauf, dass weder ihre Knie noch ihre Oberschenkel die Sitzfläche auch nur ein paar Millimeter verlassen.

Der Schraubenzieher wird in den Rasen gesteckt, wo der weiteste Versuch gelandet ist. Ringsum trainieren italienische Weitspringer, polnische Läufer und ein französischer Kugelstoßer wartet schon darauf, dass er sich nach Martina Willig in den Stuhl haken kann. Willig ist 59, blind und Rollstuhlfahrerin. Als nach einer halben Stunde das Training vorbei ist, wird das Maßband rausgeholt: »7,40 Meter, nicht schlecht«, sagt ihr Trainer Ralf Paulo, der sich die Stöße seiner Athletin aus der Nähe ganz genau angeschaut hat. Willing ist nicht zufrieden: »Zu den 7,60 Meter fehlt eben noch ein Stück«, scherzt die Kugelstoßerin, nachdem sie aus dem Wurfstuhl in den Rollstuhl geklettert ist. »Hoffen wir, dass es am Sonntag gut läuft!«

Am Sonntag wird Martina Willing ein drittes Mal bei diesen Europameisterschaften antreten, die am Sonntag zu Ende gehen. Sie hoffe wieder auf eine Medaille, sagt sie, mit ganz viel Glück vielleicht sogar die goldene - wäre doch schön, nach den zweiten Plätzen im Speerwurf und im Diskus: »Ich will hier ja nicht als die Silberelster gelten.« Dann rollt sie zusammen mit ihrer Schwester Petra, die gleichzeitig ihre Betreuerin ist, los. Gleich steht im großen Stadion die Siegerehrung für die Medaillengewinner vom Vorabend auf dem Programm. Martina Willing ist eine der erfolgreichsten deutschen Behindertensportlerinnen aller Zeiten, mehrfache Paralympics-Siegerin, Welt- und Europameisterin, sie ist Edelmetall gewohnt.

Trainer Ralf Paulo lächelt ihr hinterher: Mit einer dritten Silbermedaille wäre er schön ganz zufrieden. Der 54-Jährige Cottbuser ist Paralympischer Stützpunktverantwortlicher für das Land Brandenburg, und dass allein aus seinem Landesverband neun der 40 deutschen Athletinnen und Athleten stammen, macht den Lausitzer schon ein wenig stolz. 16 000 Mitglieder hat der Behinderten-Sportverband Brandenburg nur etwa 100 sind Leistungssportler. Doch der Paralympics-Stützpunkt in Cottbus, an dem Leichtathleten und Radsportler trainieren, gilt als vorbildlich - ein Verdienst Ralf Paulos, der bereits 1992 in Cottbus als Trainer im Para-Sport anfing.

Als er damals zusagte, Landestrainer bei den Paralympischen Athleten zu werden, hatte er nicht erwartet, besonders lange im Behindertensport zu bleiben. »Ich wusste ja auch nicht, worauf ich mich einlasse«, sagt er heute. Auf dem Arbeitsmarkt nach der Wiedervereinigung hatte der Abschluss des ehemaligen 800-Meter-Läufers als Diplomsportlehrer an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig plötzlich keinen Wert mehr gehabt. DHfK-Abschlüsse wurden nicht anerkannt. So hatte Paulo gerade Sozialpädagogik zu Ende studiert, als er unverhofft das Angebot bekam, in die Leichtathletik zurückzukehren.

Weil er sich selbst in das Thema Behindertensport einarbeiten musste, verstand Ralf Paulo ziemlich schnell, dass sich die Arbeit eines Trainers im Behindertensport in nichts Grundlegendem von seinen Studieninhalten an der DHfK unterschied: »Es ist vom Trainingsaufbau nichts Anderes, als ich es mit den olympischen Athleten tun würde«, sagt Ralf Paulo. »Man muss einfach die Systematik anwenden: Kraftphase, Ausdauer, Ausprägung etc. - es ist das, was ich im Studium gelernt habe.« Bis heute fährt Paulo mit seiner Systematik sehr gut: »Meistens gelingt es mir, dass meine Sportler zum Saisonhöhepunkt die beste Leistung bringen.« Dabei haben die Para-Leichtathleten in Sachen trainingsmethodischer Saisoneinteilung gegenüber den olympischen Athleten sogar einen kleinen Vorteil: Sie müssen allein die Norm für EM, WM oder Olympia bringen, sie müssen sich nicht zusätzlich auf bestimmte Grand Prix fokussieren, wo Preisgelder zu verdienen sind und der Marktwert gesteigert werden kann.

Ein paar Unterschiede gibt es natürlich sportart- und disziplinspezifisch, wenn man Para-Athleten betreut, sagt Paulo. »aber die sind dann eher Feinheiten.« Das Thema Prävention und Gesundheit spielt für einen Trainer wie ihn eine übergeordnete Rolle: »Schließlich müssen wir ausschließen, dass das Training den Athletinnen und Athleten am Ende womöglich schadet.« Angesichts der beträchtlichen Trainingsumfänge gelte hier besondere Aufmerksamkeit. Und fast noch wichtiger als bei den olympischen Sportlern sind für Behindertensportler die Physiotherapeuten. »Ohne die geht gar nichts«, sagt Paulo. »Nehmen wir allein die Sportler, die an Spastik leiden. Bei denen können sie mit einem gezielten Griff wahnsinnig viel bewirken.« Ohne Physiotherapeuten kann man im paralympischen Spitzensport nichts ausrichten.

Insgesamt ist Ralf Paulo zufrieden, wenn er sich anschaut, wie sich der paralympische Sport seit seinem Diensteintritt 1992 verändert hat. Natürlich gebe es weiterhin Länder, deren Leichtathleten erfolgreicher als die deutschen seien. Die Chinesen beispielsweise, neuerdings die Polen und die Ukrainer, die Briten sowieso - spätestens seit den umjubelten Paralympics von 2012 in London. Doch insgesamt sei er zufrieden, auch das Verhältnis zum olympischen Sport ist am Stützpunkt Cottbus gut. 1992 war Ralf Paulo noch »quasi Einzelkämpfer« in Cottbus, heute arbeiten sieben Hauptamtliche an den Stützpunkten Cottbus und Potsdam, für den Paulo ebenfalls verantwortlich ist. Mittlerweile sind die Trainerstellen sogar unbefristet. »Das gibt allen noch einmal eine andere Sicherheit«, freut sich Paulo, der in den ersten acht Jahren stets nur eine jährliche Verlängerung seines Vertrages bekommen hatte.

Die Europameisterschaften in Berlin, die am Sonntag enden, bezeichnet er als gelungen: »Alles hat sehr ordentlich geklappt. Nur in Sachen Zuschauerzuspruch hätte ich mir mehr erhofft«, sagt er und erinnert an die Para-Leichtathletik-WM in London, für die 330 000 Tickets verkauft wurden. In Berlin sollen es 20 000 gewesen sein. Zu wenig, findet Paulo: »Weltklasseathletinnen wie Martina Willing haben einfach viel mehr Beachtung verdient.«

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