- Brandenburg
- Sozialleistungen
Kindergeld für Polen nur gerecht
Linksfraktion Oder-Spree wendet sich gegen eine Absenkung der Sozialleistungen
Wer in Deutschland arbeitet, Steuern zahlt und Sozialabgaben leistet, hat Anspruch auf gleichen Lohn und gleiche Sozialleistungen - also auch auf das Kindergeld in voller Höhe, selbst wenn die Kinder nicht in der Bundesrepublik leben. Diese Sichtweise des Kreises Oder-Spree soll Landrat Rolf Lindemann (SPD) dem Präsidium des deutschen Landkreistags übermitteln. So möchte es die Linksfraktion. Sie hat beantragt, dass der Landrat das tut. Der Vorstoß von Linksfraktionschef Artur Pech soll bei der Kreistagssitzung am 26. September behandelt werden.
Wie Pech darauf gekommen ist? Der Landkreistag forderte die Bundesregierung auf, Pläne zur Absenkung des Kindergeldes für Kinder im Ausland voranzutreiben. Das bringt Artur Pech auf die Palme. Denn treffen würde es vor allem polnische Erntehelfer und Altenpfleger. Deren Sorgen kann Artur Pech in Oder-Spree hautnah erleben.
- Unter den 211.000 im Ausland lebenden Kindern, die in Deutschland kindergeldberechtigt sind, waren im Jahr 2017 fast 103.000 polnische Kinder, außerdem beispielsweise 17.400 kroatische Kinder, 17.000 rumänische und 16 000 tschechische, jedoch auch 15.800 französische.
- Im Jahr 2017 sind 318 Millionen Euro Kindergeld aus der Bundesrepublik ins Ausland geflossen. Insgesamt wurden 35,9 Milliarden Euro Kindergeld ausgezahlt.
- Für das erste und zweite Kind gibt es je 194 Euro im Monat, ab dem dritten Kind 200 Euro, ab dem vierten Kind 225 Euro.
- Seit 2011 dürfen Polen als EU-Bürger ohne besondere Genehmigungen auch in Deutschland arbeiten. 2012 taten dies 176.000, im Mai 2018 bereits 415.000.
- Die Zahl der in der Heimat gebliebenen polnischen Kinder wuchs seit 2012 von 38.000 auf 103.000.
- Polnische Arbeitskräfte leisteten 2012 hochgerechnet einen Beitrag von sechs Milliarden Euro zum deutschen Bruttoinlandsprodukt. 2017 waren es schon 16 Milliarden Euro. af
Der Landkreis hat eine Grenze zu Polen, und die Saisonarbeiter auf den hiesigen Feldern stammen vor allem aus Polen und Rumänien. Sie arbeiten hart für wenig Lohn und lassen dafür ihre Kinder in der Heimat zurück - oft bei den Großeltern. Manche etwas ältere Kinder leben dann sogar allein. Die Nachbarn schauen mal nach ihnen. Für die Familien ist das ein schweres Los. Ein reduziertes Kindergeld erscheint da extrem ungerecht. Immerhin stopfen die Polen in Deutschland Lücken auf dem Arbeitsmarkt, nicht zuletzt in der Altenpflege.
»Im Jahr 2012 hatten in Deutschland tätige polnische Saisonarbeiter vor dem Europäischen Gerichtshof ein Urteil erstritten, mit dem die Bundesrepublik verpflichtet wurde, auch für diese Kinder Kindergeld zu zahlen«, erinnert Linksfraktionschef Pech. Nun wolle man diese Regelung wieder kippen. Die Höhe des Kindergeldes soll an die Lebenshaltungskosten in den Heimatländern angepasst werden.
Doch die üblichen Vorwände für eine solche Kürzung - die Bekämpfung von Betrug und arglistiger Zuwanderung in die Sozialsysteme - fallen nach Einschätzung von Pech bei einem Blick auf das deutsche Buhlen um ausländische Fachkräfte und mies bezahlte Saisonarbeiter in sich zusammen. »In Wirklichkeit geht es um ganz normalen Kapitalismus.« Es sollen Extraprofite dadurch gemacht werden, »dass geeignete Arbeitskräfte aus dem Ausland rekrutiert und wesentliche Teile ihrer Reproduktionskosten - wie die Fürsorge für ihre Kinder - vor der Tür (vor der Grenze) gehalten werden«.
Pech zitiert aus Friedrich Engels' Schrift »Lage der arbeitenden Klasse in England« (1845). Dort heißt es: »Die rasche Ausdehnung der englischen Industrie hätte nicht stattfinden können, wenn England nicht an der zahlreichen und armen Bevölkerung von Irland eine Reserve gehabt hätte, über die es verfügen konnte.«
So wie einst die Iren sollen jetzt die Osteuropäer die Lücken schließen, die durch eine am Profit orientierte Politik gerissen werden, ist Pech überzeugt. Und die Osteuropäer sollen billiger sein als es die Entwicklung eines Arbeitskräftepotenzials im Inland wäre. Der Linksfraktionschef ahnt den Einwand, die Lage 1845 in England und Irland sei mit der Situation in Deutschland und Polen heute nicht vergleichbar, die polnischen Arbeitskräfte seien ja freiwillig hier und nicht von der Not getrieben. Doch er rechnet vor, dass Bruttoinlandsprodukt pro Kopf habe 2017 in Polen bei 12.000 Euro gelegen, in Deutschland bei 40.000 Euro - und diese Kluft sei seit 2011 sogar noch um 5000 Euro gewachsen.
In mancher Beziehung stellen sich die Fragen von 2018 noch so brutal wie 1845, findet Pech. »Die Forderung, für Kinder, die von ihren Eltern getrennt leben müssen, in Deutschland das Kindergeld zu kürzen, während die Eltern für den Wohlstand und den Profit in Deutschland schuften und hier auch Steuern zahlen, ist Teil einer Politik, die auf die zusätzliche Ausplünderung weniger wohlhabender Länder gerichtet ist. Die sollen Kinder großziehen, bilden und später als möglichst kostengünstige Arbeitskräfte nach Deutschland schicken.« Dem sei die Forderung nach gleichem Recht, gleichem Lohn und gleiche Sozialleistungen für gleiche Arbeit am gleichen Ort entgegenzuhalten.
Über die Erfolgsaussichten seines Antrags macht sich Linksfraktionschef Pech keine allzu großen Illusionen. Für den 19. September ist eine Sondersitzung des Kreistags in der polnischen Stadt Slubice angesetzt. Der gleichnamige Landkreis Slubice ist einer von drei polnischen Landkreisen, mit denen Oder-Spree eine Partnerschaft pflegt. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit ist oft nützlich. Zuweilen bekommt man EU-Fördermittel nicht anders als auf diese Weise. Darum die Sondersitzung in Slubice gemeinsam mit polnischen Kommunalpolitikern. In einem solchen Rahmen hätte der Kindergeldantrag schwer abgelehnt werden können, denkt Pech. Doch es klappt aus verschiedenen Gründen nicht, den Antrag dort zur Abstimmung zu bringen. Darum kann dies erst bei der regulären Kreistagssitzung am 26. September geschehen. Und dort ist der Vorstoß »nicht chancenlos, aber kein Selbstläufer«, schätzt Pech ein.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.