Fast aus der Sprunggrube gerutscht

Zum Abschluss der Para-EM der Leichtathleten siegt Markus Rehm im Weitsprung mit Weltrekordweite von 8,48 m

  • Ronny Blaschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Bei seinem Weltrekord ist der unterschenkelamputierte Weitspringer Markus Rehm aus Leverkusen über das Ziel hinausgeschossen. Er landete im letzten Versuch bei 8,48 Metern und rutschte aus der Sprunggrube. Nie zuvor war ein Paralympier weiter geflogen. Mit diesem Wert wäre Rehm auch Europameister der Nichtbehinderten geworden und hätte sogar Chancen auf eine Olympiamedaille. »Es ist mein Ziel, die Grube kurz aussehen zu lassen«, sagte Rehm.

Der Weltrekord Rehms war der Höhepunkt der Para-Europameisterschaften in Berlin, einer wichtigen Vorbühne für Paralympics und Weltmeisterschaften. Organisatoren und Vertreter des Deutschen Behindertensportverbandes (DBS) lobten sich am Sonntag gegenseitig für ihre »rundum gelungene« Veranstaltung. Bei näherem Hinsehen wird aber deutlich: Gemessen am Potenzial der Sportmetropole Berlin war das höchstens Durchschnitt.

Vor allem das Zuschauerinteresse lag hinter den Erwartungen. Nur wenige tausend Tickets wurden verkauft, die große Mehrheit der fast 30 000 vergebenen Karten ging an Schüler, Sponsoren und Partner. Als Ursachen werden die späte Werbung und die mangelnde Zusammenarbeit mit der olympischen Leichtathletik diskutiert. 2017 verfolgten 300 000 Zuschauer die Weltmeisterschaften in London. Die britischen Paralympier sind den deutschen enteilt.

Auch die sportliche Bilanz ist mäßig. Bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe belegte das deutsche Team Platz fünf des Medaillenspiegels mit 36 Medaillen, elf in Gold. Polen, die Ukraine und Großbritannien waren erfolgreicher. »Wir waren hier mit vierzig deutschen Athleten am Start«, sagte Bundestrainer Willi Gernemann. »Aber es hätten auch gern sechzig sein können.« Das Ergebnis macht deutlich: In der paralympischen Kernsportart gehört Deutschland nicht zur Spitze.

Willi Gernemann wünscht sich von 17 Landesverbänden des DBS eine größere Fokussierung auf den Leistungssport. »Wir wollen Talente per System finden. Nicht per Zufall.« Große Hoffnungen ruhen unter anderem auf den siegreichen Läufern Felix Streng, Lindy Ave und Nicole Nicoleitzik. Bei den EM in Berlin feierten zwölf deutsche Sportler ihre internationale Premiere.

Zumindest das Interesse der Medien war so groß wie selten zuvor bei einem paralympischen Wettbewerb in Deutschland. »Trotzdem steckt unsere Bewegung noch in den Kinderschuhen«, sagt Heinrich Popow, der seine Laufbahn beendete. Der langjährige Sprinter und Weitspringer leitete neben dem Jahn-Sportpark die »Running Clinic« und machte junge Menschen mit Prothesen vertraut. Mit dabei war ein 17-jähriges Mädchen, das Popow in Kiel kennengelernt hatte. Er hält sie für ein großes Talent, doch im Norden Deutschlands gibt es für sie keinen Trainingsstützpunkt. Popow: »In manchen Regionen ist man aufgeschmissen.«

Heinrich Popow ist für Bayer Leverkusen gestartet, einem Vorzeigeverein des paralympischen Sports. Doch in anderen Regionen hätte er sich nicht so entfalten können. Das bevölkerungsreiche Bayern war bei den EM in Berlin nur mit einer Athletin vertreten. Es gibt dort wenige Vereine und Trainer, die Leichtathleten mit einer Behinderung an die Spitze führen können. Auch die Stützpunkte anderer Sportarten sind bundesweit verteilt: für Schwimmen in Berlin, Rollstuhlbasketball in Hamburg, Skisport in Freiburg. So müssen Talente entweder umziehen oder sich dem Angebot vor Ort anpassen.

Trotz der medialen Präsenz gebe es viel Unwissenheit, berichtet Lars Pickardt, Vorsitzender der Deutschen Behindertensportjugend. »Im Moment kriege ich viel von Eltern zu hören: Mein Kind macht keinen Behindertensport, mein Kind macht richtigen Sport.« Ein Beispiel: Ein Jugendlicher ohne Unterarm geht tagsüber in eine Regelschule und abends in den Sportverein. »Doch es gibt noch etliche Eltern, die nicht wissen, dass es bei Behindertensport um Höchstleistungen geht. Das kann ein zusätzliches Angebot sein.« Die Behindertensportjugend fördert die Vernetzung von Vereinen und Schulen: mit Schnupperkursen, Talenttagen oder dem Schulwettbewerb »Jugend trainiert für Paralympics«, der seit vier Jahren an sein olympisches Pendant gekoppelt ist.

Die Experten sind sich einig: Für eine bessere Talentförderung braucht der paralympische Sport die Infrastruktur des olympischen Sports. In Berlin war das Gegenteil der Fall: Der Europäische Leichtathletikverband EAA zeigte wenig Interesse an den Paralympiern. Bei den EM der Nichtbehinderten in Berlin hielt sich die Werbung für die Para-Leichtathletik in Grenzen. Und auch paralympischen Einlagenwettbewerbe gab es dort nicht.

Alexander Dzembritzki, Staatssekretär für Sport in Berlin, hofft, dass die EM die Debatten um Inklusion bereichern wird. Der Jahn-Sportpark soll für 110 Millionen Euro zu einem barrierefreien Mustergelände umgebaut werden. Es ist vielleicht ein Schritt, damit Berlin irgendwann tatsächlich an die paralympische Spitze kommt.

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