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»Ich hoffe, die Welt hört uns«
Vier Monate nach der Rebellion gegen die Regierung Ortega in Nicaragua herrscht die Normalität der Repression
Über Managua braut sich ein Unwetter zusammen. Während sich der Abendhimmel zusehends verdunkelt, hasten vereinzelte Hauptstädter in einen Supermarkt, um letzte Besorgungen vor dem Wolkenbruch zu tätigen. Vor dessen Toren grüßt sie ein mit abgeschnittener Schrotflinte ausgerüsteter Wachmann. Unter seinem weißen Arbeitshemd schimmern die knalligen Lettern einer Wahlkampagne der Sandinistischen Partei. »Wir haben wieder länger geöffnet«, grüßt er grinsend. »Der Comandante hat’s gesagt, im August kehren wir zur Normalität zurück.« Der Comandante ist Präsident Daniel Ortega.
Soweit die offizielle Losung der Regierung. In den vergangenen Wochen setzte der ansonsten kamerascheue Präsident zu einem medialen Rundumschlag an. In gleich fünf Interviews - eine Rarität in seiner zweiten, elfjährigen Amtszeit - zeigte er sich darum bemüht, den mittelamerikanischen Staat als befriedet darzustellen. Seine Gattin Rosario Murillo, zugleich Vizepräsidentin, verleiht dieser Deutung in ihren allmittäglichen, religiös-esoterisch eingefärbten Ansprachen Nachdruck: »Gott sei Dank erlangen wir die Normalität zurück! Möge Gottes Größe sich diesen Wenigen entgegenstellen, diesem verbitterten Rest, der immer noch versucht, Nicaragua zu schaden. Sie schaffen es nicht!«
Neben dem Supermarkt steht ein kleiner Früchtestand. Hinter dessen improvisierten Tresen hockt »El Doctor«, so nennen ihn seine Mitkämpfer. »Die Menschen sollen erfahren, was sich wirklich in Nicaragua zuträgt«, beginnt er, nervös auf einer Holzkiste hin und her rutschend. Er trägt ein weißes T-Shirt, kurze Hosen und abgetretene Sportschuhe. »Das ist das erste Mal, dass ich wieder das Haus verlasse. Ich war einer der Anführer der Rebellion in meiner Stadt.« Seit zwei Wochen hält sich der 28-jährige Krankenpfleger in einem sicheren Unterschlupf in Managua versteckt und klagt die Regierung an: »Sie haben jetzt einen Haftbefehl erlassen und ein Kopfgeld auf mich ausgesetzt.«
»El Doctor« stammt aus dem indigenen Viertel Monimbó der Stadt Masaya. Spätestens seit der Revolution von 1979 gilt Masaya - und allen voran Monimbó - als für den Widerstand ikonisch. Der im Südwesten des Landes gelegene Verkehrsknotenpunkt zwischen Managua und Granada wurde zum Zentrum des Aufbegehrens gegen die Familiendiktatur der Somozas. Die Bewohner bauten Barrikaden, um sich gegen die Nationalgarde zu verteidigen. Anastasio Somoza Debayle ließ Masaya bombardieren. Seine Truppen zogen von Tür zu Tür, auf der Suche nach vermeintlichen »Terroristen«. Etliche Oppositionelle kamen dabei ums Leben. So auch Camilo Ortega, der kleine Bruder Daniel Ortegas. Letzterer installierte sich als Galionsfigur der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (FSLN).
Knapp 40 Jahre später wird der Ex-Guerillakämpfer seinerseits als Diktator charakterisiert. Das jüngste Aufbegehren gegen die Regierung entzündete sich im April an einer allzu zögerlichen Reaktion auf einen Großbrand im Biosphärenreservat Indio Maíz. Es folgte eine per Dekret verordnete Reform des Sozialsystems. Die Rentenbeiträge sollten steigen, die ohnehin kargen Pensionen gekürzt werden. Friedliche Demonstrationen, vornehmlich angeführt von Studenten und Rentnern, wurden von Anhängern der sandinistischen Jugendorganisation (JS) und der Polizei blutig niedergeschlagen. Wachsende Proteste mündeten rasch in einer Massenbewegung, die den Rücktritt des autokratisch regierenden Ehepaars fordert. Bereits Anfang Juni hatten Regierungsgegner 70 Prozent der Haupttransportwege des Landes mit Straßensperren lahmgelegt. In Masaya, wo die Konfrontationen mitunter am heftigsten ausfielen, erklärten dessen Bewohner ihre Stadt zum »Freien Territorium«.
»Als in Indio Maíz die Flammen loderten, arbeitete ich dort als Teil des militärischen Rettungsdienstes«, schildert »El Doctor«. »Die Tage vergingen und unsere Einheit unternahm nichts. Ohne präsidialen Befehl rührt niemand einen Finger, hieß es. Frustriert reichte ich umgehend meine Kündigung ein. Mit einer eigens aufgestellten Brigade aus Mitgliedern der Freiwilligen Feuerwehr, dem Roten Kreuz und Pfadfindern sind wir dann noch vor den Truppen da reingegangen. Ich habe eine Ausbildung in Waldbrandbekämpfung. Wir konnten insgesamt 14 Punkte ausmachen, an denen Feuer gelegt wurde. Außerdem fanden wir Benzinfässer. Das Militär beschuldigt einen Bauern, der seinen Lebtag lang dort das Land bearbeitet hat. Ich bin jedoch sicher, dass die wollten, dass das Reservat Schaden nimmt und seinen Status als Schutzgebiet verliert. Das kommt der Abholz-Politik des Regimes gerade gelegen.«
»El Doctor« war auch vor Ort, als in Masaya die ersten Schüsse fielen. Vernarbte Schusswunden an seiner linken Schläfe und am rechten Oberschenkel zeugen von diesen ersten Gefechten. »Am 18. April ging mein Großvater mit einem Plakat ›bewaffnet‹ gegen die umstrittene Rentenreform demonstrieren. Mit blutüberlaufenem Kopf kam er zurück nach Hause«, erinnert er sich. »Am nächsten Morgen wurden aus einer Handvoll Protestierender rasch 200. Erneut ließ die Polizei nicht auf sich warten. Zuerst griffen sie mit Tränengas und Gummigeschossen an. Beamte droschen zügellos auf die Demonstrierenden ein. Wir zerbrachen Gullideckel und verteidigten uns mit den Brocken. Bald darauf kämpfte die Polizei Seite an Seite mit JS-Mitgliedern und nun schossen sie mit Feuerwaffen. Ich rief zum Rückzug nach Monimbó auf. Als die Menschen dort Zeugen des ungleichen Kampfes wurden, strömten sie auf die Straßen und bald warf das halbe Dorf mit Steinen.«
Die Auseinandersetzungen verebbten erst in den frühen Morgenstunden. »Das war einer der längsten Tage meines Lebens«, pflichtet »El Doctor« bei. Noch in der gleichen Nacht wird sein Cousin durch Schüsse in Kopf und Brust getötet. Er selbst fand sich zu Sonnenaufgang im Krankenhaus wieder. »Als ich sah, wie ein Junge inmitten des Tränengases nach Luft rang, hastete ich zu ihm und in die Schusslinie hinein. Eine Kugel erwischte mich dabei am Kopf und ich ging zu Boden. Meine Kameraden lasen mich auf. Ich hatte ein Riesenglück, die Kugel steckte in einer Art Tasche zwischen Kopfhaut und Schädelknochen. Wieder bei Bewusstsein bastelte ich mir einen Verband und begann, mich so gut es ging um andere Verletzte zu kümmern. Stunden später traf mich eine 9mm-Patrone ins Bein. Im Krankenhaus verweigerten sie uns die Behandlung. Befreundete Ärzte und Krankenschwestern eilten zu Hilfe. Ein Kollege aus Granada der Labore und Praxen beliefert, brachte uns kistenweise Material. So wurden die ersten medizinischen Einheiten, die ›Brigaden des 19. April‹, geboren«.
Drei Monate lang bot Masaya den unablässigen Angriffen seitens der Polizei und regimetreuen paramilitärischen Gruppen die Stirn. Erst als die Regierung im Rahmen einer landesweiten »Säuberungsoperation« jeglichen Ausdruck des Protests von der Straße zu verbannen suchte, wurde die Stadt durch eine über 1500 Mann starke Offensive zurückerobert. Er habe vom Präsidentenehepaar den Befehl erhalten, so Ramón Avellán, Generalkommissar der örtlichen Polizei, die Stadt »zu säubern, koste es, was es wolle«. Am 23. August wurde der als Symbol der Repression geltende Avellán zum Vizechef der Polizei befördert.
Dem sonst besonnenen »Doctor« zittert die Stimme, als er diese Ereignisse aufleben lässt. »An diesem Tag floss das Blut auf den Straßen. Meine Schwester fand ich vor unserem Haus, wo sie in eigener Regie eine Krankenstation eingerichtet hatte. Sie lag dort tot auf dem Asphalt, mit zwei Kugeln in der Brust.« Tränen treten ihm in die wachen Augen. »Ich schulterte ihren leblosen Körper und rannte damit zur Kirche. Ich sah die Jungs hinter den Barrikaden, als ihnen weder Munition für die selbstgebauten Granatenwerfer noch Steine zum Werfen blieben. Sie standen mit erhobenen Armen auf und bildeten eine Menschenkette. Ihre Bitte, das Feuer einzustellen, erwiderten die Schergen mit einer Salve. Mehrere starben noch an Ort und Stelle. Einer stadtbekannten Frau, sie hat 18 Kinder zur Welt gebracht, schossen Paramilitärs in den Bauch und schnitten ihr die Kehle durch. Sie hatte sich geweigert, den Verbleib zweier ihrer Jungs preiszugeben.« Das regierungsnahe Nachrichtenportal »El 19 Digital« proklamierte am Folgetag: »Heute feiert dieses historische Viertel der Stadt Masaya seine Freiheit, nachdem es von Terroristen zur Geisel genommen wurde, die von rechten Putschisten finanziert wurden. Die Freudentränen der Familien waren voll Glück und Dankbarkeit.«
Hunderte Bewohner Masayas und der umliegenden Dörfer suchten an den üppig bewachsenen Ufern des nahen Kratersees »Laguna de Apoyo« Schutz. Immer noch halten sich unzählige Personen dort versteckt. »Die Polizei kämmt das Terrain mit Hunden durch, kennt es aber nicht so gut wie wir«, erklärt »El Doctor«. »Dennoch, allein nach der ersten Nacht zählte ich zehn Leichen am Strand. Die offiziellen Medien berichten von zwei Todesopfern. Aber bis heute hat niemand Klarheit über das ganze Ausmaß des Massakers. Die Stadt ist von Paramilitärs belagert.« Er schätzt die Zahl auf rund 60 Tote. Als die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (CIDH) im Mai nach Monimbó kam, hätten die Leute dankbar Auskunft gegeben. »Heute wäre das anders. Die Angst ist zu groß.«
Auch in weiteren Städten des Landes wie Léon, Jinotega, Diriamba und Jinotepe sind nach wie vor Paramilitärs präsent. Ortega nennt sie »freiwillige Polizei«. Neue Ausdrucksformen des Protests sollen im Keim erstickt werden. Wie bereits in den Jahren der Somoza-Diktatur schüchtern diese Einheiten in Zusammenarbeit mit der Polizei die Bevölkerung ein und ziehen mit Namenslisten von zu verhaftenden »Putschisten« ausgerüstet durch die Nachbarschaften. »Diese Männer haben mein Haus geplündert, Kameras installiert und benutzen es als ihr Quartier«, fährt »El Doctor« fort.
Mittlerweile gießt es in Strömen. Die Kundschaft des Supermarktes hat sich in alle Richtungen verstreut. »El Doctor« spricht jetzt gelassener, aber nicht ohne dabei immer wieder prüfend über den Tresen zu spähen. »Meinen Onkel und meinen 82-jährigen Großvater haben sie kürzlich aus dem Gefängnis entlassen. Dort hat man ihnen sämtliche Nägel gezogen. Die wollten wissen, wo meine Schwester und ich sind. Dass sie sie selbst kaltblütig ermordeten, haben sie scheinbar bereits vergessen.«
Seit August hat die offiziöse Repression neue Formen angenommen. Die zunehmende Bedrohung durch den Staatsapparat und die Kriminalisierung oppositioneller Sektoren bestimmen die aktuelle Phase der Krise. Diese Umstände haben mitunter zur vorübergehenden Schließung des Sitzes der nicaraguanischen Vereinigung für Menschenrechte (ANPDH) und zur Flucht ihres Leiters, Álvaro Leiva, nach Costa Rica geführt. »Meine Frau und Dreijährige Tochter sind Teil des Exodus«, legt »El Doctor« dar. »Ich hab’ sie Ende April in den Bus gesetzt. Seitdem kann ich sie kaum sprechen. Es ist zu gefährlich.«
Weiterhin finden, der »Normalität« zum Trotz, Märsche statt - zumeist beschattet von Polizei und Paramilitärs. Willkürliche Verhaftungen von Demonstrierenden gehören in Folge dessen zur Tagesordnung. Die Protestzüge fordern die Befreiung der politischen Gefangenen und eine Wiederaufnahme des Mitte Mai initiierten Friedensdialoges. »Ich hoffe, die Welt hört uns«, beendet »El Doctor« das Gespräch energisch. »Wir brauchen dringend Hilfe. Und es muss Gerechtigkeit geben. All die Verbrechen dürfen nicht ungestraft bleiben. Denn ohne Gerechtigkeit gibt es kein Vergeben.«
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