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Große Freiheit Ost

Vom F zum B: die Straße 96 bleibt im Gespräch

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 3 Min.

Kurz vor Stralsund machten die Scheibenwischer schlapp, und es goss wie aus Eimern. Wir hatten noch 15 Kilometer bis zur Ostseeküste zu fahren. Hinter uns im Trabi saßen die Kinder. Angesichts des Wetters hatten sie ihre Träume vom Baden im Meer kurzerhand in Träume vom Patschen durch Pfützen umgewandelt.

Meine Freundin hinter dem Steuer brauchte für den Rest der Strecke auf der F 96 eine knappe Stunde. Aber das war kein Grund für uns fünf Berliner, unsere Vorstellung vom Traumurlaub zu aufzugeben.

Ich erinnere mich noch heute an die fröhliche Stimmung, in der wir uns befanden, damals Mitte der 80er Jahre. Im Augustregen, auf der wohl berühmtesten Straße des Landes. Mehr als drei Jahrzehnte später spüren zwei junge Autoren dem Lebensgefühl der Menschen an und auf der 96 nach. Sie erzählen vom Zittauer Bürgermeister, der sich klar gegen rechts positioniert, aber auch den Linken aufträgt, in Sachen Vergangenheitsbewältigung ihre Hausaufgaben zu machen. In die polnischen und tschechischen Nachbarorte will er im Wortsinn Brücken bauen: Die europäische Idee ist ihm wichtig.

Kneipenwirtin Gundi aus Welzow ist eine Sammlerin. Die kleine Lausitzstadt war vom Kohletagebau geprägt. Nach der Wende verließen die Menschen scharenweise den Ort, der ihnen keine Arbeit mehr bot. Alle ließen irgendetwas bei Gundi zurück: eine Grubenlampe, eine Marx-Büste aus Meißner Porzellan, Fotos aus den Glashütten oder Briketts mit Aufdruck. Gundi kann all die Dinge, die sich in ihren Vitrinen drängen, nicht wegwerfen. Sie will, dass Welzower sich zu Hause fühlen, wenn sie ihre Gaststätte betreten. Einige Kilometer weiter nordwärts führt die B 96 in Berlin-Johannisthal fast direkt an dem Haus von Werner Karma vorbei. Der Dichter schrieb viele romantische Texte, unter anderem für die Rockgruppen »Karls Enkel« und »Silly«. Trotz vieler Probleme, die er seiner kritischen Einstellung wegen bekam, verteidigt er die DDR vehement und meint, jedes System habe seine dunklen Seiten.

Die 96 kennt - in der DDR als Fernverkehrsstraße geführt und vierzig Jahre später zur Bundesstraße avanciert - jeder. Im Sommer 1978 sendete Radio DDR eine Feature-Serie mit Begegnungen zwischen Zittau und Saßnitz. Viele Menschen kamen in Interviews mit ihren alltäglichen Sorgen zu Wort, nicht nur Funktionäre oder LPG-Vorsitzende. Das war neu und galt fast als kleine Sensation. Es folgten Filme, Reportagen und ein Buch mit Geschichten über die große Freiheit Ost.

Thelen und Victor haben nun einen neuen Aspekt gefunden. Sie hinterfragten die üblichen Klischees über Ostdeutschland und suchten nach dem Positiven. Auch wenn man den Lebensentwürfen einiger Protagonisten - wie der kleinen, Aussteiger-gruppe in Lehmhütten und Zirkuswagen im Brandenburger Wald - nicht folgen mag, bekommt man einen Eindruck von der ungeheuren Vielfalt der Träume. Keiner gleicht dem anderen, aber es gibt sie.

Raphael Thelen, Thomas Victor: Straße der Träume. Ein Roadtrip auf der B 96, be.bra Verlag, 224 S., br., 18 €.

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