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- Wohltätigkeit und karitatives Engagement
Verschönerung der hässlichen Fratze des Neoliberalismus
Warum ich großzügige Menschen mag, von Wohltätigkeit aber Bauchschmerzen bekomme.
Es ist erst ein paar Wochen her, da berichteten Berliner Zeitungen über die großzügige Aktion der Berliner Lions-Club und des Vereins Berliner Helfen e.V.: Sie spendeten mehr als 2800 Beutel mit Schulsachen für Kinder in Not. Verteilt wurden sie an Kinder und Jugendliche aus Familien, die Hartz IV empfangen oder unter anderen schweren Bedingungen leben. Was für eine nette, hilfsbereite Geste! Wer unter uns möchte nicht die gute Seite der Menschheit sehen. Doch im Nachhinein hat mich diese kleine Nachricht nachdenklich gemacht. Fast schon wütend.
Als ich Mitte 2015 nach Deutschland kam und sah, wie zivilgesellschaftliche Organisationen regelrecht darum konkurrierten, den ankommenden Flüchtlingen zu helfen, war ich begeistert von der Großzügigkeit dieser Gesellschaft. Davon, wie viele Menschen sich engagierten, um in den schwierigen Zeiten anderen Menschen zu helfen. Diese Wohltätigkeitsarbeit half ein temporäres, sehr akutes Problem zu lösen, das – und das ist wichtig hier – nicht aus den grundsätzlichen Problemen der wirtschaftlichen und sozialen Struktur des Landes entstanden ist. Schließlich kommen Flüchtlinge nicht jeden Tag in dieser Anzahl nach Berlin. Es ist eine Notsituation, entstanden durch andere Probleme auf internationaler und regionaler Ebene im Nahen Osten, die hier nicht behandelt werden können.
Doch, was mich auf den ersten Blick so begeisterte, gib mir inzwischen zu denken. Karitative Arbeit kann leicht negative Auswirkungen haben. Sei es, dass sie versucht, strukturelle Probleme in der Gesellschaft zu behandeln oder wenn es sich um rein kosmetische Aktionen handelt, die negativen Seiten des kapitalistischen Systems zu kaschieren. Wenn Wohltätigkeitsarbeit versucht, dauerhaft die täglichen Grundbedürfnisse der Empfänger zu decken, führt dies zu einer Verbesserung des Lebensstandards dieser Menschen. Das ist gut, kann aber leicht zu Abhängigkeiten führen. Diese wiederum festigt die Klassendifferenzierung. Es entsteht eine Klasse, die mittelfristig nicht mehr in der Lage sein wird, die Bedürfnisse ihrer Kinder zu decken. Dies ist ein deutliches Zeichen für die ungleichen Einkommensverhältnisse und die ungerechte Verteilung des Wohlstands in Deutschland.
Schauen wir einmal auf die Seite der Gebenden: Es ist kein Zufall, dass heute großer und schneller Reichtum, parallel zum Aufstieg karitativer Arbeit existiert. Sie sind Ergebnisse neoliberaler Politik: Die führte nach dem Fall des Bretton Woods Systems zu einem Rückgang von sozialstaatlichen Leistungen und einem ungerechten Steuersystem. Die Intervention der Kapitalisten mit ihren karitativen Organisationen gegen die, durch die neue Ungleichheit ausgelösten Probleme, sind ein Versuch, die langfristigen Brüche der sozialen und politischen Systeme zu flicken.
Es scheint, als ob sie das, was sie gebrochen hatten, wieder gut machen wollen, und zwar in Form von Wohltätigkeit und Nächstenliebe. Dadurch wird das bestehende politische und wirtschaftliche System geschützt, eine Gesellschaftsordnung, die es nur einer kleinen Anzahl von Menschen erlaubt, diesen großen Reichtum zu erlangen.
Karitative Arbeit trägt so zur Legitimation und Expansion des Kapitalismus bei. Wohltätige Organisationen ersetzen die Rolle des Staates. Die Prinzipien der Wohltätigkeitsarbeit basieren auf die Behauptung, dass kapitalistische Werkzeuge anderen, insbesondere dem Staat, überlegen sind. Denn: Viele Wohltätigkeitsorganisationen werden quasi marktwirtschaftlich geführt. Die Verantwortung, die Bedürfnisse der Bürger zu decken, verschiebt sich von demokratischen Institutionen zu den Reichen und ihren Stiftungen.
Tatsächlich dient das karitative Engagement der Reichen dazu die Aufmerksamkeit von den Mängeln kapitalistischer Politik abzulenken. Und: Durch ihre wohltätige Arbeit können sich die neuen und alten Reichen nicht nur Ansehen und Prestige erlangen, sondern auch weniger Steuern zahlen. Doch wohltätige Organisationen und Stiftungen machen auch viel direkter Politik: mit politischen Spenden, der Unterstützung einzelner Politiker und dem Fördern einzelner politischer Vorhaben.
Natürlich sollen hier nicht die gespendeten Beutel mit Schulmaterialien für die gesamten Übel sozialer Ungleichheit und die Auswirkungen des Kapitalismus verantwortlich gemacht werden. Doch sie könnten ein Anfang dafür sein, dass man sich auch hierzulande immer mehr auf diese künstlichen Lösungen für die Auswirkungen des Neoliberalismus verlässt. Leicht stimmt man den Schuldzuweisungen zu: »Der Fehler liegt bei uns und nicht im System«. Soll doch jeder sich anstrengen und arbeiten, um das zu verdienen, was die Reichen haben.
Dem entgegne ich, dass es hier um Gerechtigkeit der Verteilung der Ressourcen geht. Schließlich steht das, was den Reichen an Möglichkeiten, an Bildung zu Verfügung steht, nicht allen zur Verfügung. Selbst wenn man davon ausgeht, dass es so wäre, muss der Staat so stark intervenieren, dass die Differenzen und die Klassenunterschiede in der Öffentlichkeit nicht zu sehen sind.
Jeder Bürger, der in irgendeinem Land lebt, die Gesetze befolgt, arbeitet - wenn er denn arbeiten kann - Steuern zahlt, der den sozialen Vertrag zwischen sich und dem Staat befolgt, hat das Recht, dass seine Kinder mit Schulmaterialien versorgt sind, die sich nicht von denen der Kinder der reichen Familien unterscheiden. Sie sollten nicht bei jedem Mal, wenn sie ihre Schultaschen öffnen, daran erinnert werden, dass sie ein Fall der Wohltätigkeit und Nächstenliebe sind.
Der Artikel ist im Original auf Arabisch und zuerst auf dem Onlineportal von »Amal, Berlin!« erschienen. Übersetzt wurde er in Kooperation mit dem von der Initiative »Gesicht Zeigen!« getragenen Projekt »Media Residents« von Karin Minawi.
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