Grundrecht auf Wohnen chancenlos
Linksfraktion in Hessen will auch kostenfreie Bildung in die Verfassung aufnehmen
Wenn am letzten Oktobersonntag das Wahlvolk in Hessen in die Wahllokale eilt, um einen neuen Landtag zu wählen, dann werden die Wahlberechtigten einen weiteren Stimmzettel in die Hand gedrückt bekommen. Konkret geht es hier um 15 vom Landtag mit breiter Mehrheit vorgeschlagene Änderungen an der Ende 1946 in Kraft getretenen Verfassung.
Hessen ist das einzige Bundesland, in dem das Wahlvolk bei Verfassungsänderungen auf Vorschlag des Landtags das letzte Wort hat. Die im Dezember 1946 mit breiter Mehrheit von der Bevölkerung angenommene Verfassung enthält bis zum heutigen Tage eine Reihe fortschrittlicher Aussagen und Gebote. Dazu zählen etwa kapitalismuskritische Artikel zur Sofortsozialisierung wichtiger Industriebranchen und Enteignung bei Missbrauch wirtschaftlicher Macht oder zum Recht auf Arbeit, zum Aussperrungsverbot, zur Ächtung von Kriegen, zum Asylrecht zum Antifaschismus sowie klassische gewerkschaftliche Forderungen.
Der seit 1999 in Hessen tonangebenden CDU wie auch der FDP waren solche Inhalte stets ein Dorn im Auge. Statt Sozialisierung wollten und wollen sie den beschönigenden neoliberalen Begriff »Soziale Marktwirtschaft« festschreiben. Doch mehrere Anläufe, um solche angeblich »nicht mehr zeitgemäßen« Artikel zu streichen, waren gescheitert. Das Risiko einer Niederlage an der Wahlurne und einer polarisierenden öffentlichen Debatte war den bürgerlichen Akteuren dann doch zu groß, zumal auch in der ablaufenden Legislaturperiode der Deutsche Gewerkschaftsbund, LINKE und SPD keine Bereitschaft zeigten, die kritisierten Verfassungsartikel über Bord zu werfen.
So kam bei der Arbeit der 15-köpfigen Enquetekommission des Landtags zur Verfassungsänderung letztlich eine bescheidene »kleine Lösung« heraus, die dann in der Schlussabstimmung des Parlaments von CDU, SPD, Grünen und FDP vollständig getragen wurde.
Die Linksfraktion hatte nur einem Teil der Änderungen zugestimmt und schlägt der Bevölkerung auch ein differenziertes Stimmverhalten bei der Einzelabstimmung über die 15 Punkte vor. Unumstritten waren aus ihrer Sicht die vorgeschlagenen neuen Verfassungsbestimmungen zur Stärkung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern, die Stärkung der Kinderrechte und die Stärkung der Unabhängigkeit des Rechnungshofs. Ebenso unbedenklich sind aus linker Sicht ein Bekenntnis zur Europäischen Integration und die Herabsetzung des Wählbarkeitsalters. Ebenso das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, der Schutz informationstechnischer Systeme und nicht zuletzt auch die Aufhebung der bisher in den Verfassungsartikeln 21 und 109 vorgesehenen Todesstrafe als höchstes Strafmaß. Die Todesstrafe war 1946 angesichts des gerade erst zerschlagenen Naziregimes offensichtlich auf ranghohe NS-Verbrecher gemünzt und wurde in Hessen nie vollzogen, weil sie im Grundgesetz von 1949 für abgeschafft erklärt wurde und Bundesrecht Landesrecht bricht.
Auf Ablehnung der Linksfraktion stieß die vorgeschlagene Verfassungsänderung zur elektronischen Verkündung von Gesetzen. Damit soll die Möglichkeit geschaffen werden, Gesetze nur noch online zu verkünden und gar nicht mehr auf Papier. Der Änderungsantrag, wonach neben der elektronischen Publikation auch die Verkündung in Papierform weiter Bestand haben müsse, fand keine Mehrheit. Damit würde ein Zehntel der Bevölkerung ausgegrenzt, warnt die Fraktion in einem Infoblatt. »Dies sind überwiegend Menschen, die entweder alt sind oder die sich einen Zugang zum Internet schlichtweg nicht leisten können.«
Ein Nein empfiehlt die LINKE auch beim Änderungsvorschlag zur »Stärkung der Volksgesetzgebung«. Hier sei schon der Titel irreführend, so das Infoblatt. Der Vorschlag der Landtagsmehrheit strebt für die Einreichung eines Volksbegehrens für ein Landesgesetz eine Senkung der Antragstellerquote von 20 Prozent aller Stimmberechtigten auf fünf Prozent an. Falls der Landtag aber das Begehren nicht unverändert als Gesetz übernimmt, müssen nach dem Vorschlag bei einer Volksabstimmung mindestens 25 Prozent aller Wahlberechtigten zustimmen. Dieses Ausgangsquorum von 25 Prozent »stärkt keine Volksgesetzgebung, sondern verschiebt nur die Hürden«, so das Infoblatt. Tatsächlich überspringen auch in Hessen bei vielen Bürgermeisterdirektwahlen die Wahlsieger vielfach nicht das Quorum von 25 Prozent aller Wahlberechtigten.
Erfolglos blieb beim Projekt Verfassungsänderung der Vorstoß von Linksfraktion und SPD, das Grundrecht auf Wohnen und kostenfreie Bildung in der Verfassung festzuschreiben. Auch die Christdemokraten konnten sich mit einem ureigenen und von den Kirchen geforderten Anliegen nicht durchsetzen: der Aufnahme eines Gottesbezugs in die Verfassung.
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