»Manchmal denke ich, ihr seid verrückt«

Feuilletons zeichnen ein Bild des sächsischen Romanautors Lukas Rietzschel, das in die Zeit von Chemnitz und Köthen passt. Aber der junge Schriftsteller widerspricht.

  • Celestine Hassenfratz
  • Lesedauer: 14 Min.

Da steht er, unter Stuck, auf alten Dielen. Liest und liest und liest. Seit Stunden schon bewegt sich sein Mund auf und ab. Formt Wörter zu Sätzen, Sätze zu einem Roman. Hier drinnen gehört die Welt, die er erschaffen hat, noch ihm. Und ihr. Sie hört gebannt zu, Stunden schon.

»Da«, sagte Philipp. Auf der linken Straßenseite, in einem der Wohnblöcke, war der Balkon. Er war so weit oben, dass Philipp und Tobi sich zur Scheibe beugen mussten. Die Wand war gänzlich schwarz. Das Geländer verkohlt. Der ganze Block stand leer.

Mit der Faust in die Welt schlagen

Die beiden Brüder Philipp und Tobias wachsen in der sächsischen Provinz auf. Der eine zieht sich in sich selbst zurück, der andere sucht Zuflucht in Gewalt. Um sie herum: zerklüftete Landschaften der Tagebaue, leer stehende Hinterlassenschaften der DDR, zerrissene Lebensläufe. Aus Mangel an Perspektiven, Langeweile und Frust über ein Gefühl des Zurückgelassenseins wird ihre Wut immer größer.

Über drei Zeitebenen, von 2000 bis 2015 zeichnet der Autor Lukas Rietzschel das langsame Radikalisieren der Brüder nach. Mal richtet sich die Wut gegen die sorbische Bevölkerung im Dorf, mal gegen Türken, mal gegen Juden. Irgendjemand muss ja Schuld an der eigenen Misere sein. Daran, dass die Familien zerbrechen über Streitigkeiten, daran, dass der Ort immer mehr an Struktur und Perspektive für die Jugendlichen verliert. Als ihr Heimatort Flüchtlinge aufnehmen soll und es zu Aufmärschen in Dresden kommt, eskaliert die Situation.

Lukas Rietzschel: Mit der Faust in die Welt schlagen. Roman. Ullstein Verlag, 320 S., geb., 20 €.

Sie schaut auf die Uhr, muss bald los, den letzten Zug zurück nach Berlin erwischen. Draußen legt sich die Dämmerung über die ostsächsische Stadt Görlitz. Er liest schneller, verhaspelt sich manchmal beim Sprechen. Sie wechselt ihn ab, ein, zwei Kapitel, dann liest er wieder:

»Das sind Nazis«, sagte Christoph plötzlich.

»Was meinst du?«

»Was die gehört haben, ist mittlerweile verboten.«

»Woher weißt du das?«

»Hab ich gehört.«

»Das sind keine Nazis«, sagte Philipp.

Nicht mehr viele Seiten, dann haben die beiden es geschafft. Sie, Linda Vogt, Lektorin und er, den man den jüngsten Meistererzähler aus Sachsen nennt: Lukas Rietzschel, Buchautor.

Müsste man das Idealbild eines Autors entwerfen, es ähnelte ihm vermutlich. Er, die jüngere Version von Donat Blum, meistens geknöpfte Hemden mit Stehkragen, runde Brille, Jutebeutel, glatte braune Lederschuhe. Bücher signiert er mit einem Taschenfüller. Wenn man ihn fragt, wie er das Leben eines gerade 24-jährigen Studenten und das eines Schriftstellers vereinbart, erklärt er: Täglich stehe er schon früh morgens vor Sonnenaufgang, zwischen fünf und sechs, auf, setze sich dann gleich an seinen Tisch, schreibe ein paar Stunden, durchgängig bis zehn oder elf. Dann lege er sein Geschriebenes zur Seite, radele zum Schwimmen, um sich abends wieder an das Verfasste zu setzen. Fragt man Haruki Murakami, wie er denn so schreibt, erhält man kaum eine bessere Antwort. Rietzschel scheint das Handwerk erfolgreicher Autoren verstanden zu haben.

Rietzschel hat etwas geschafft, was nicht vielen der rund jährlich 15 000 belletristischen Neuerscheinungen gelingt: Sein Debütroman hat Aufmerksamkeit erregt, was wohl an seinem Thema liegt: Sachsen.

Wer ist dieser Autor, der »den Roman über den Osten«, »famos geschrieben!« »das Buch zur Zeit«, »wie der junge Ingo Schulze« verfasst hat? Noch vor Erscheinen seines Buches »Mit der Faust in die Welt schlagen« sind die Feuilletons voll von Lobeshymnen. Rietzschels Geschichte ist die eines literarischen Underdogs, einer, der es geschafft hat, auf der anderen Seite zu stehen. Und der sich nicht, wie die beiden Brüder in seinem Roman, in rechten Kreisen stetig mehr und mehr radikalisiert. Rietzschels Geschichte ist auch die Suche nach der Bedeutung von Literatur in aktuellen Debatten.

Die Spurensuche beginnt im Jahr 2014. Lukas Rietzschel, 1994 in Ostsachsen auf die Welt gekommen, Sohn einer Krankenschwester und eines Fliesenlegers, hätte eigentlich eine Ausbildung machen sollen, so erzählt er es. Sein Vater motivierte ihn, doch noch das Fachabitur zu machen, eine Berufsberaterin empfiehlt ihm ein paar Universitäten, an denen man auch mit seinem Abschluss studieren kann. Er zieht nach Kassel, schreibt sich für Germanistik und Politik ein. Kassel, der Westen, sei für ihn zuerst ein Kulturschock gewesen, erzählt er. Der Landkreis Bautzen, aus dem er stammt, hat nicht einmal zwei Prozent Ausländer. In Kassel Nordstadt ist es jeder Dritte.

Der Zufall wollte es, dass Lukas sein WG-Zimmer in dem Haus bezogt, in dem 2006 Halil Yozgat, neuntes Todesopfer der rechtsextremen NSU, ermordet wurde. »Das mitzubekommen, war ein krasses politisches Erlebnis«. Als sein Bruder ihn für ein Wochenende in Kassel besucht, marschieren ehemalige Freunde und Bekannte von zu Hause gerade in Schneeberg auf, um gegen Flüchtlinge zu demonstrieren. »Warum stehen die da, nicht wir?«, fragte Lukas seinen jüngeren Bruder Elias. Das Nachdenken, die Suche nach Antworten auf die Frage, was bei ihm anders gelaufen ist als bei denen, mit denen er doch aufgewachsen, in gleiche Schulen gegangen, denen er auf Dorffesten begegnet ist, hätten dazu geführt, diesen Roman zu schreiben, erzählt Lukas Rietzschel.

»Ich kannte die, die da standen, zumindest wusste ich, wo sie herkamen, wie sie aufgewachsen sind«, sagt Lukas. Dann dachte sich der Autor, so erzählt er es später, »wenn niemand sonst in der Lage ist, darüber zu berichten, dann mache ich das.« Immer mal wieder hatte er zuvor auch geschrieben, sich journalistisch bei einer Lokalzeitung ausprobiert, auch schon einen Text in einer Anthologie veröffentlicht. Einen Roman zu veröffentlichen, daran hatte er im Traum nicht gedacht. »Ich habe mich nie als Intellektueller oder Schriftsteller gesehen.«

Mit dem Text über die beiden Brüder, deren Aufwachsen im Osten, die schleichende Radikalisierung, bewirbt er sich für ein Literaturstipendium und um den Retzhof-Preis für junge Literatur und belegte den zweiten Platz. Die Auszeichnung ist eine von unzähligen Literaturpreisen, die es jährlich zu gewinnen gibt und die ein Stück zum Lebensunterhalt von Schriftstellern beitragen. Auch war der Aufenthalt in der Werkstatt für junge Literatur in Graz für Lukas Rietzschel auch geistig bereichernd. Gerade Nachwuchsautoren brauchen derlei Austauschplattformen, die für sie auch Sprungbrett sein können. Denn nicht selten entstehen dadurch Kontakte zu Verlagen und Literaturagenten. Nur ein Jahr zuvor hatte Philipp Winkler den Preis gewonnen, ein Jahr später wurde sein Debüt »Hool« für den deutschen Buchpreis nominiert. Ein Literaturagent, selbst kaum älter als Rietzschel, nimmt Kontakt zu ihm auf. Bis das Manuskript fertig ist, dauert es noch ein Jahr.

September 2017, wenige Tage nach der Bundestagswahl, schickt der Literaturagent das Manuskript an fünf große Verlage. Die AfD holt 12,6 Prozent und zieht ins Parlament ein, in Sachsen wird sie mit 27 Prozent stärkste Kraft.

In Linda Vogts Postfach liegt spät abends eine neue Nachricht. Eigentlich hat sie für heute schon genug gearbeitet, das Manuskript will sie aber noch lesen. Die Geschichte, das Abrutschen ins rechte Milieu, ist hochaktuell. Vogt, blonde Haare und lockerer Dutt, Mittdreißigerin, ist erst seit eineinhalb Jahren beim Ullstein Verlag. Zuvor war sie bei der bibliophilen Buchreihe »Die Andere Bibliothek« als Lektorin tätig. Die allermeisten Autoren, mit denen sie dort zu tun hatte, sagen zwar Vieles und Wichtiges, sind aber längst tot. Zu Ullstein hatte sie auch gewechselt, um endlich mehr mit zeitgenössischen Autoren zusammenzuarbeiten. Das Manuskript, so erzählt sie es später, hat sie noch in derselben Nacht durchgelesen. Sie glaubt an die Kraft der Bücher. Daran, dass sie die Welt verändern können. Sie ist niemand, der sich gerne in den Vordergrund drängt. Ihre Aufgabe sei es, den Autoren eine Plattform, eine Bühne zu bieten. Ihr Beruf, vierzig, fünfzig Stunden, manchmal kein Feierabend, dieses Jahr schon in Indien, Australien und ganz Deutschland unterwegs, immer wieder neue Geschichten, viele schlechte, wenig gute, erzählt sie, sei ihr Traumjob.

Am nächsten Morgen trifft die Lektorin den Ullstein-Verleger. Gunnar Cynybulk ist erst wenige Tage im Amt. Auch er ist vom Aufbau Verlag zum viel größeren Ullstein Verlag gewechselt, soll jetzt dreimal so viele Bücher pro Jahr wie zuvor verlegen. Will, muss sich beweisen. Er ruft die Akquiserunde zusammen. Marketing, Presse, verlegerischer Geschäftsführer, Lektorin. Cynybulk fragt in die Runde: »Was kann man mit dem Buch anstellen?« Schnell ist klar: Ullstein will das Manuskript. Als Linda Vogt zum Telefonhörer greift und den Literaturagenten von Lukas Rietzschel anruft, um ihm ein Angebot zu unterbreiten, haben das bereits vier andere Verlage vor ihr getan. Alle großen Verlage wollen Rietzschel haben, einen so jungen Autoren und eine Geschichte, die besser nicht in die aktuelle Zeit passen könnte. Ullstein bekommt den Zuschlag.

Sommer 2018, das Werk ist fertig. In Chemnitz gehen 6000 Menschen auf die Straße, die einen nennen sie Nazis, die anderen besorgte Bürger. Thilo Sarrazin veröffentlicht ein neues Sachbuch über das sein ehemaliger Verleger Thomas Rathnow sagt, es verstärke antimuslimische Ressentiments. Der Islam werde, als »Geißel der Menschheit« dargestellt. Ganz Deutschland will verstehen, weshalb der »rechte Hass im Osten« weiter wächst.

Nasser Asphalt, der erste Regen seit Wochen. Der schwarze Minibus fährt mit 90 Sachen durch Ostsachsen und wirkt dabei sonderbar deplatziert. Ein alter Trabbi im Vorgarten, das Klischee wird belächelt. An Bord: Der Autor Lukas Rietzschel, Verleger Cynybulk, Lektorin Vogt, Blogger und Journalisten. Der Ullstein Verlag hat zum »Literatourbus« geladen. Safari durch Ostdeutschland, dorthin, wo Lukas’ Buch spielt, in die Gegend, wo die AfD 44 Prozent geholt hat.

»Meisterlich« sei das, was Lukas geschrieben hat, lobt Verleger Cynybulk ins Mikrofon. Dann, Speeddating mit dem Autoren. Er nimmt Platz. Seine Hände wandern stetig über seine Oberschenkel hin und her, die Finger zwirbeln beim Denken und Sprechen am Bart. Er wirkt nervös, kein Wunder bei dem ganzen Rummel um ihn herum. »Manchmal denke ich mir, ihr seid verrückt, ich hab doch nur ein Buch geschrieben«, sagt Lukas, er spricht leise und bedacht. Und dass der Druck schon ganz schön groß sei. Er stehe ungern im Mittelpunkt, sagt: »Ich bin gerne alleine«, aber dass er den ganzen Zirkus zur Vermarktung eben mitmache, weil er hinter seinem Buch stehe. »Der Verlag braucht dich, aber du brauchst auch den Verlag«, fügt er hinzu. »Der Buchmarkt, das ist kein System, das komplett auf Erfolg aus ist. Das sind Leute, die Bücher lieben, die glauben an die Kraft des Buches. Hier geht es nicht um maximale Gewinnorientierung«, glaubt Lukas.

Der Ullstein Verlag, einer der drei größten deutschen Publikumsverlage, gehört seit einigen Jahren zum schwedischen Bonnierkonzern, der jährlich zwei Milliarden Euro umsetzt, mit seinen 180 Unternehmen weltweit. Dieses Jahr wird auch die Veröffentlichung von Sarrazins Buch in der Münchner Verlagsgruppe der Firma Geld einbringen. Wie er das denn eigentlich findet, als politisch engagierter Mensch und Autor, dass er selbst und Sarrazin beim gleichen Konzern veröffentlicht werden? Klar, Sarrazin lehne er ab, und über die verlegerischen Absichten könne er nichts sagen, aber selbst in seinem Buch würde er Sarrazin doch indirekt vorwerfen, dass er mitschuldig sei, an der rechten Verschiebung des Diskurses über Ausländer und Geflüchtete. »Wer will, kann Sarrazin kaufen und dann bei mir nachlesen, was ich diesem Mann indirekt vorwerfe«, sagt Lukas.

Noch acht Tage bis zur Veröffentlichung. Der Verlag hat eine Rezensionssperre bis zum 7. September erbeten, das offizielle Datum der Veröffentlichung, der »Stern« hält sich nicht daran. Sie sind die Ersten, bringen die Story über den Jungautor des Jahres. Die »Berliner Zeitung« zieht nach, die »Frankfurter Rundschau«, die »Welt«, der »Spiegel«. Sie alle sind sich einig, der junge Mann habe ein überaus wichtiges und gutes Buch geschrieben, endlich schaffe es einer das zu erklären, was ganze Reihen an Journalisten, Soziologen, Politikern nicht geschafft hätten. Deutschland zu erklären, woher der Hass und die Wut im Osten denn eigentlich kommen. Der Autor wird noch vor Erscheinen seines Buches zum gefragten Rassismusexperten, spricht in einer Talkrunde mit Politikern und Wissenschaftlern über die »Gemengelage«, wie er es nennt, in Sachsen. Der Ullstein Verlag beschließt die Veröffentlichung vorzuziehen.

Premierenlesung in Görlitz, die Buchhandlung proppenvoll, der Autor ist vor der Lesung fast den Tränen nahe, Linda Vogt, seine Lektorin, an seiner Seite. Ein paar Tage später wird er im Interview mit der »Sächsischen Zeitung« sagen, manchmal fühle er sich wie ein Hochstapler, wie einer, der das alles gar nicht verdiene.

10. September 2018, das Internet schaltet sich in die Diskussion darüber ein, was Literatur erklären kann, und was nicht. Hashtag Rietzschel. »Dass Lukas Rietzschels Romandebüt als Erklärungsansatz für rechte Gewalt im Osten herangezogen wird, habe ich schon befürchtet. Vermutlich hat Rietzschel tatsächlich vor, uns die Nazis in der Lausitz zu erklären. Deshalb ist das Buch problematisch - als Roman und als Erklärung.«

Was folgt, ist eine literaturwissenschaftliche Sezierung von Rietzschels Werk. Auf 140 Zeichen, aufgeteilt in 15 Posts auf Twitter: Wer den Roman als Erklärung für Rechte im Osten nimmt, liest den Text nicht als Roman, sondern als Sachbuch, schreibt die Userin mit dem Namen »shorstkotte«. Selbst als Sachbuch sei der Text schwach, erzähle nichts von rechten Strukturen und Akteuren, sondern von labilen Mitläufertypen, die aus Langeweile zu Nazis werden. Die erzählerische Gestaltung des Textes erlaube es dem Leser gar nicht erst zu verstehen, weshalb die Figuren handeln, ihre Motive blieben leer. Atemlose Stakkato-Hauptsatzprosa, die fast gänzlich ohne Konditional- und Kausalsätze auskomme. Schon allein grammatikalisch mache der Stil des Romans es fast unmöglich, das Handeln der Figuren zu erklären und zu begründen.

Wer ist die Frau, die es wagt, an Rietzschels Autoren- und Expertenthron zu rütteln? Ein Anruf an der Universität Leipzig, am Institut für Germanistik. Hier forscht Silke Horstkotte zu deutscher Gegenwartsliteratur. Sie liest so ziemlich alles, was ihr in den Programmen der Verlage ins Auge sticht, auf ihrem Blog »die letzten kritischen Leser«, schreibt sie darüber. »Mit der Faust in die Welt schlagen« wurde vom Verlag als Spitzentitel angekündigt. Sie liest das Buch und ist zuerst einmal verwundert. Darüber, dass das Buch als Erwachsenenbuch angekündigt wurde, wo es doch aus ihrer Sicht ganz klar ein Jugendbuch sei, »ein solides«. Dass das Buch nun so heiß diskutiert werde und als rechter Gewalterklärungsroman, als das Buch zur Stunde herhalten müsse, sei kein neuer Schuh. »Bereits seit den Wenderomanen gibt es einen Trend der Literaturkritik, von literarischen Neuerscheinungen zu fordern, dass sie aktuelle Ereignisse darzustellen haben, eine Art Pflicht, dass Schriftsteller ein komplexes Geschehen erläutern sollen, das wir anderweitig nicht erfassen können.« Als Rietzschels Buch veröffentlicht wird, diskutiert ganz Deutschland über die Tötungsdelikte in Chemnitz und Köthen, darüber, wo die vielen gewaltbereiten Nazis plötzlich alle herkommen. Aktueller kann ein Buch nicht sein.

Silke Horstkotte lacht kehlig tief auf die Frage, ob das denn nun wirklich eines der ersten Bücher sei, die es zu diesem Thema gibt. Ganze Seminare habe sie schon zu der langen Reihe von Jugendbüchern, die sich mit rechter Gewalt beschäftigen, gemacht. Die hätten aber oftmals nicht so einen großen Verlag im Rücken, die nötige Durchschlagkraft, um die Neuveröffentlichung bis in die ersten Reihen der Feuilletons zu pushen.

Es sei letztlich auch ein journalistischer Trend, sagt Horstkotte, eine Großerklärung für den Osten zu fordern. Rietzschels Roman sei aber dennoch interessant, so gebe ihr die Debatte über den Roman darüber Auskunft, dass sich die Gattungsregeln des Romans, wie wir sie kennen, zu wandeln scheinen. »Ein Roman ist ein fiktionaler Text. Er bildet Wirklichkeit nicht ab, sondern simuliert Wirklichkeit. Wenn man den Roman als Erklärung für den Osten liest, versteht man ihn eben gerade nicht als Simulation, sondern als Abbild.«

13. September 2018, zwei Wochen ist das Buch schon im Verkauf. Der Verlag hatte gehofft, es würde bereits jetzt auf der Bestsellerliste stehen. »Hervorragende Gegenwartsliteratur verlegen zu können, das möchten ja alle. Junge Schriftsteller mit Werken, die irgendwann zu Klassikern werden«, sagt Gunnar Cynybulk, der Verleger.

Lukas Rietzschel bekommt einen eigenen Wikipediaeintrag. In einem Interview fordert er seine Mitmenschen dazu auf, aufzustehen, auf die Straße zu gehen, keiner müsse sich der AfD zuwenden, sagt er. Die Medienberichte zu Rietzschels Biografie werden immer verdrehter. In einem Bericht heißt es, das Buch habe er geschrieben, um zu verstehen, weshalb sein Bruder auf rechtsextreme Demos gehe, ein anderes Mal erzählt er von der gähnenden Leere der Bücherregale seines Zuhauses. Nie wolle er vergessen, wo er herkomme. Aus der unteren Mittelschicht. So, berichten die Medien, habe er es ihnen erzählt. Die Journalisten graben tiefer in seiner Biografie. Der Autor steht bereitwillig Rede und Antwort. Immer mehr Parallelen zwischen seiner Lebensgeschichte und der seiner Romanfiguren tauchen auf. Die Ausbildung in der Fahnenfabrik Kamenz, die er und eine seiner Figuren hätte machen sollen, das Praktikum bei der »Sächsischen Zeitung«, die Eltern Arbeiter, der Opa Eisenbahner, der eigene Geburtsort, wenige Kilometer vom Ort des Romans entfernt. Es scheint, als wolle der Autor seine eigene Lebensgeschichte mehr und mehr mit der seiner Protagonisten verweben. Die Leser und Medien nehmen es begeistert an. Endlich spricht da einer, der auch noch Ahnung hat, weil er es doch quasi selbst erlebt hat.

Das alles, sagt Rietzschel, habe er so gar nie gesagt. Irgendetwas habe sich da verselbstständigt. Sein Bruder sei nie auf einer rechtsextremen Demo gewesen und aus der unteren Mittelschicht komme er schon dreimal nicht. Eine Schülerzeitung aus der 5. Klasse taucht auf. Rietzschel erzählt darin, er spiele seit vier Jahren Geige, überhaupt seien alle sehr musikalisch in seiner Familie, sein Onkel, selbst Geiger bei der Staatsoper in Dresden, sein großes Vorbild. Die Geschichte, in der Lukas Rietzschel der aufgestiegene bildungsferne Autor ist, der literarische Underdog, einer ohne Abi, einer, der fast Nazi, aber dann Schriftsteller geworden ist, beginnt zu bröckeln.

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