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Hoffen auf eine Extrarunde Schulbank

An der Produktionsschule Moritzburg lernen junge Migrantinnen und Migranten, die sonst durch alle Raster fallen

  • Ann Esswein
  • Lesedauer: 7 Min.

Hinter Pferdeställen und zwischen Einfamilienhäusern liegt die Produktionsschule Moritzburg. Im Klassenzimmer herrscht angestrengte Stille. Bruchrechnen steht heute auf dem Schulplan. In der Kleinstadt in der Nähe von Dresden, durch die sonst Touristen schlendern, stehen die zwölf Schüler für drei Jahre vor einer Mammutaufgabe, die ihr Eintritt in die sächsische Gesellschaft sein soll: Deutsch lernen, Gesellschaftskunde und Mathematik, Biologie, Geschichte und Englisch - Stoff, für den Deutsch-Muttersprachler fünf oder sechs Jahre Zeit haben. Sie kommen aus Syrien, Afghanistan, Pakistan, Irak - und sie alle wollen hier bleiben, sich integrieren.

»2/3 + 1/2 + 2/5« steht als Aufgabe an der Tafel. »Das ist einfach, das haben wir schon geübt«, erinnert Arpad Szabo, der Mathematiklehrer, seine Klasse. Rohullah in der zweiten Reihe, 19 Jahre alt und vor zwei Jahren aus Afghanistan geflohen, runzelt die Stirn. Sie müssen den kleinsten gemeinsamen Nenner finden, um die Aufgabe zu lösen. In der Mathematik gibt es dafür eine Regel, die immer gilt. Und was ist der kleinste gemeinsame Nenner in der Integration?

»Wenn ich einen Ausbildungsplatz habe, arbeiten kann, Geld verdiene, dann miete ich mir eine Wohnung und dann lebe ich«, sagt Rohullah. So einfach könnte es sein. Aber so einfach ist es nicht in Sachsen für einen jungen Mann aus Afghanistan. Rohullah beobachtet mehr als er spricht. Der 19-Jährige trägt einen Ohrring im linken Ohr und Tattoos auf den muskulösen Armen. Er könnte aussehen wie seine Gleichaltrigen. Und dennoch: »Ich fühle mich schon ein bisschen fremd und habe ein bisschen Angst.« Wenn Menschen rufen »Ausländer raus«, den Mittelfinger zeigen oder ihm zurufen, das sei ihr Land: »Was kann man da machen?«, fragt er. Rohullahs Rechenformel außerhalb des Klassenzimmers lautet: ohne Schulabschluss keine gute Arbeit und ohne Arbeit keine Integration. »In unserer Gesellschaft funktioniert Identifikation eben über Erwerbsarbeit«, erklärt David Meis, der Geschäftsführer der Produktionsschule Moritzburg.

2015 eröffnete dort die Modellklasse, ein bis dahin einmaliges Auffangbecken für Jugendliche, die im Regelschulsystem kaum Chancen gehabt hätten, den Hauptschulabschluss zu schaffen - unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus. Die ehemaligen Schüler arbeiten jetzt in Krankenhäusern und Handwerksbetrieben, die dringend auf der Suche nach Auszubildenden waren. Aktuell gibt es in Sachsen rund 5800 freie Lehrstellen. Bundesweit gibt es zum Teil mehr Plätze als Ausbildungsbewerber.

Das Bildungs- und Integrationsangebot, das sie zur Ausbildung bringen soll, beschreibt Gesa Busche vom Flüchtlingsrat Sachsen als »Flickenteppich, der große Löcher hat«. In das größte Loch fallen alle, die - wie Rohullah - volljährig sind. Für Personen über 18 Jahre endet die Schulpflicht in Deutschland - ungeachtet dessen, dass Geflüchtete oft ihre Schullaufbahn abbrechen mussten und in Deutschland weiter auf Bildungsangebote angewiesen wären. Rohullah hätte deshalb keinen Anspruch mehr auf einen Platz auf der Schulbank; auch Berufsschulen konnten ihn abweisen.

Alle Menschen sollten die Möglichkeit haben, ihren gewünschten Schulabschluss nachzuholen, findet Rohullahs Klassenlehrerin Alessia Bonetti. Integration sei nicht etwas, das der Staat von Geflüchteten einfach einfordern könne, ohne ihnen dafür die entsprechende Bildung zukommen zu lassen, findet die 43-Jährige, die selbst aus Italien stammt.

Wie vermittelt man neben dem Hauptschulstoff Integration, ist die herausfordernde Frage, die sich die Klassenlehrerin täglich stellen muss. In Biologie bringt Bonetti der Klasse die heimischen Baum- und Tierarten bei - für die Schüler sind nicht nur die Vokabeln neu. Die Worte lassen sich nicht einfach ins Arabische, in Urdu oder Paschtu übersetzen. Was im Unterricht vermittelt werde, sei viel mehr als nur der Stoff für die Hauptschulprüfung, erklärt die Klassenlehrerin: »Wir bringen den Schülern bei, was es bedeutet, in Deutschland zu wohnen. Was es hier für Regeln gibt und wie das Zusammenleben funktioniert«, sagt Bonetti: »Wenn ich das politische System in Deutschland nicht kenne, wenn ich nicht weiß, wer für mich was entscheidet und was ich aktiv tun kann, dann bin ich schlecht integriert.«

Gesellschaftskunde ist Karshmas Lieblingsfach. Die 18-jährige Afghanin trägt blaue Kontaktlinsen »um auszusehen wie eine Deutsche«. Im Unterricht sagt sie die fünf Wahlgrundsätze auswendig auf: Geheim, frei, unmittelbar, gleich, allgemein. »Und was bedeutet allgemein?«, fragt Bonetti ihre Klasse. »Es bedeutet, alle dürfen wählen, wenn sie 18 Jahre alt sind und einen deutschen Pass haben«, antwortet Karshma. Sie hinterfragt es nicht, dass für junge Deutsche mit 18 Jahren das Recht auf Mitbestimmung in der Demokratie beginnt, während für sie nun das Recht auf Schulbildung endet.

Für Karshma ist mit Beginn der Sommerferien die Zeit an der Produktionsschule abgelaufen. Sie hat den Hauptschulabschluss nicht bestanden. Mit ihrem letzten Schultag lief auch die Finanzierung der Modellklasse aus. Karshma weiß, sie bräuchte noch einen Anlauf, um sich ihren Wunsch erfüllen zu können: Stewardess zu werden und in Deutschland zu bleiben. Ihre Volljährigkeit und vor allem ihr Status steht dem im Wege. Ihre Familie bekam vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2016 den Bescheid: negativ. Ob sie bleiben darf, hängt auch davon ab, ob sie den notwendigen Abschluss für die Ausbildung schafft. Ohne Garantie, dass sie währenddessen nicht abgeschoben wird. Während für Auszubildende ein sogenannter Abschiebestopp gilt, ist die Teilnahme an einem Integrationskurs oder dem Schulunterricht kein Hinderungsgrund zur Abschiebung. Für Karshma, Rohullah und ihre Mitschüler wäre der Abschluss in diesem Schuljahr zum Teil die letzte Chance gewesen, erklärt Geschäftsführer Meis. Wie es weitergeht, bleibt für das Kollegium unklar. Gerade liegt ihr Antrag auf eine erneuerte Finanzierung beim Staatsministerium für Gleichstellung und Integration.

Um die Lücke für über 18-Jährige zu schließen, stellte der Freistaat Sachsen im April ein Konzept vor, das auch die Produktionsschule in Zukunft umsetzen könnte. Es trägt den komplizierten Namen: »Dringende Maßnahme zur Herstellung von Ausbildungsreife durch Förderung berufsbereichsbezogener Grundbildung für nicht mehr schulpflichtige Flüchtlinge mit geringer schulischer Vorbildung«. Rund 400 Jugendliche sollen ab Oktober in einer ersten Runde gefördert werden. 13 Träger sollen das Konzept bis 2021 umsetzen. Ob die Produktionsschule Moritzburg unter ihnen sein wird, darüber entscheidet das Staatsministerium für Gleichstellung und Integration in Kürze.

Das neue Konzept soll die Lücken im Flickenteppich schließen und kreiert in Wirklichkeit eine weitere: Kaum Chancen auf einen der limitierten Plätze haben Geflüchtete wie Karshma, die nur per Duldung in Deutschland bleiben dürfen. Es sei eine »Mauschelzone«, erklärt Gesa Busche. Vielen Bildungsträgern sei es zu heikel, Geflüchtete mit unsicherem Aufenthaltsstatus aufzunehmen. Den Projektkoordinatoren falle so eine völlig falsche, ordnungspolitische Funktion zu: monatlich die Duldung zu kontrollieren. Innenpolitik in Klassenzimmern.

Einen Anspruch auf die Extrarunde Schulbank haben Geflüchtete mit einem »Arbeitsmarktzugang«. Für sie heißt das Ziel zukünftig nicht mehr Hauptschulabschluss, sondern Ausbildungsreife. »Wir bedienen uns dabei der Kniffe, um die Jugendlichen für die Ausbildung fit zu machen«, erklärt Geschäftsführer Meis und blickt auf drei Jahre Erfahrung mit der Modellklasse zurück. Was die Umstellung für seine Schule bedeuten könnte, hört sich eher nach Praktikum als nach Schulbank an: Die Teilnehmer bekommen an zwei Schultagen Deutsch und Allgemeinbildung vermittelt. Die anderen Tage sind sie im Betrieb. Metallfachjargon statt Goethe. Ein Papier, das ihnen einen vergleichbaren Schulabschluss wie den Hauptschulabschluss bestätigt, halten sie am Ende aber nicht in der Hand.

»Es wird sich zeigen, wie das funktioniert und ob die Unternehmen nicht doch den Hauptschulabschluss fordern«, sagt Busche, die gleichzeitig auch für »RESQUE continued« arbeitet, ein Programm, das Geflüchtete und Unternehmen zum Thema Arbeit und Ausbildung berät. Viele Ausbildungsstellen setzen eine Vorbildung voraus, die jemand erreicht, wenn er mindestens acht Jahre im deutschen Schulsystem war. Zu kurz und zu unflexibel sei das Beschulungskonzept laut Busche. Anstatt wie bisher zwei bis drei Jahre, hätten sie nur noch 18 Monate, um auf ein vergleichbares Level zu kommen wie ihre Altersgenossen.

Rohullah hat es dennoch geschafft. Er ist einer der acht Schüler, die in der letzten Runde an der Produktionsschule Moritzburg den Hauptschulabschluss gemacht haben. In der Pflege bekam er einen Ausbildungsplatz. Rohullah hofft nun auf Anerkennung in der Gesellschaft: »Ich wünsche mir, dass die Leute allen Ausländern eine Chance geben, damit sie lernen können. Wenn sie die deutsche Sprache lernen können, können sie später auch arbeiten wie die anderen, Geld verdienen und Steuern bezahlen.«

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