Grundgesetz im Sprechgesang

Nah dran sein an dem, was auf den Straßen gerufen wird: Das »War or Peace«-Festival des Gorki-Theaters erinnert an den Ersten Weltkrieg und beginnt am 3. Oktober vor dem Brandenburger Tor

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 3 Min.

Mitunter lohnt es sich, alte Texte noch einmal neu zu lesen. Kennen Sie den hier? »Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt«, heißt es etwa in Artikel 2 des 1949 verabschiedeten Grundgesetzes.

In politisch druckvollen Zeiten, in denen es nur noch die Entfaltung ganz bestimmter Persönlichkeiten und um das Durchsetzen ganz bestimmter Meinungen zu gehen scheint, gewinnt der relativierende Nebensatz, der auf die Rechte anderer verweist, an Bedeutung.

Erst recht, wenn er aus 50 Kehlen gerufen wird. Die polnische Künstlerin Marta Gornicka hat die Präambel und die ersten 20 Artikel des Grundgesetzes in eine Sprechgesangs-Partitur überführt und nun zur Aufführung bringt. Damit eröffnet das »War or Peace«-Festival des Gorki-Theaters und zwar am 3. Oktober um 15.15 Uhr vor dem Brandenburger Tor. Das ist ist der Tat ein »künstlersicher Stresstest«, wie Gornika das nennt.

»Es wird verschiedene Gruppen geben, Stimmen werden vereinzelt, dann aber auch wieder zusammengeführt«, beschreibt Gorki-Co-Intendant Jens Hillje diesen Ansatz. Es könnte interessant werden, wenn der Chor zu Stellen gelangt, in denen vom »deutschen Volk« gesprochen wird. »Das ist dann nah dran an dem, was gerade jetzt auch auf den Straßen gerufen wird«, sagt Hillje und konstatiert: »Das ist ein Risiko. Es ist aber auch spannend.«

Für den Chor bemühte sich Gornicka um ein realistisches Abbild der Berliner Bevölkerung. »Gelernte Schauspielerinnen und Schauspieler sind dabei, aber auch nicht-professionelle Performer aus der bürgerlichen Mitte und der Fußball-Ultra-Szene, politisch verortet von links bis rechts, queere Aktivist*innen und aktive Alte, Menschen mit und ohne Behinderung, die hier in Berlin geboren oder im Exil sind«, verspricht Hillje. Viele Stimmen lesen einen Text. Sätze werden fallen wie dieser aus Artikel 3: »Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.« Oder auch jener aus Artikel 14: »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.« Das Recht auf Asyl wird ebenfalls artikuliert.

Das Festival »War or Peace«, das an das Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren erinnern soll, geht dann selbst erst ab 16. Oktober weiter, dann wieder im geschützten Bereich des Theaters und mit Aufführungen, Performances, Filmen und Vorträgen über Konfliktzonen wie Ex-Jugoslawien, Georgien, Griechenland, Türkei, Naher Osten und Tansania.

Unter dem Titel »What happened here« hält Kathleen Bomani am 16. und am 18.10. einen multimedialen Vortrag über die Geschichte des deutschen Kolonialismus in Afrika, insbesondere über den blutigen Ostafrikafeldzug in Tansania, der 1917 zu Ende ging. Ebenfalls am 16.10. geht es um die »Memories of Sarajevo«, in einem Stück von Julie Bertin und Jade Herbulot. Bekanntlich war das Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand 1914 in Sarajevo der Anlass für den Beginn des Ersten Weltkriegs. Im jugoslawischen Bürgerkrieg wurde die Stadt dann von der längten Belagerung im 20. Jahrhundert heimgesucht. Sie dauerte fast vier Jahre und begann 1992 - parallel zur feierlichen Unterzeichnung der Mastrichter Verträge der EU 1992.

Das Gorki setzt mit »War or Peace« einen Kontrapunkt zur ersten Spielzeit der damals neuen Leitung, als 2014 auf den Beginn des Ersten Weltkriegs zurückgeblickt wurde. »Damals waren wir politisch etwas optimistischer. Jetzt erleben wir die Rückkehr von Nationalismen und Faschismen«, sagte Co-Intendant Hillje. Wirkte »1914 - 2014« noch wie ein historisierendes Spiel, so drängen sich nun die politischen Parallelen auf.

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