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Ein rebellisches Gefühl
In Berlin haben sich erstmals Sympathisanten der Bewegung »Aufstehen« getroffen
Voll besetzter Saal, gute Stimmung, Tatendrang: Bei der ersten Veranstaltung von »Aufstehen«-Berlin in der UFA-Fabrik am Sonntagabend geht das Konzept der neuen Sammlungsbewegung auf. Gekommen sind viele, die sich über Jahre politisch engagiert haben, bei der PDS, der WASG, der SPD, den Grünen, Piraten oder in sozialen Bewegungen. Sie alle teilen tiefen Frust über die Parteien und das politische System. »Ich habe in den letzten Jahren eine große Verdrossenheit bei mir festgestellt«, erklärt eine Frau ihre Beweggründe, bei »Aufstehen« mitzumachen. »Ich habe gemerkt, dass ich gar keine Lust mehr habe, mich irgendwo zu engagieren, weil ich mir nur noch verarscht vorkam.« Sie habe das Gefühl gehabt, es gebe keine Politik mehr, sondern nur noch Wirtschaft.
Die Hintergründe der Anwesenden sind unterschiedlich: Hier sitzt die Ostberliner Erzieherin neben dem Naturschutzbundler. Auch LGBTI-Aktivisten und Studenten sind gekommen. Auch wenn noch nicht jeder im Raum endgültig für sich entschieden hat, ob »Aufstehen« seine neue politische Heimat ist, wird deutlich: Das Projekt trifft einen Nerv. Alle finden, dass etwa ganz gehörig in die falsche Richtung läuft, und die mutmaßliche Mehrheit, die damit nicht einverstanden ist, dem bisher wenig entgegenzusetzen hat. »Seit es ›Aufstehen‹ gibt und ich da unterschrieben habe, fühle ich mich wieder viel rebellischer«, sagt ein älterer Mann und lacht.
Auf der Bühne spricht für die »Aufstehen«-Spitze die LINKE-Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen. Es sind vor allem ihre Worte, die das schwierige Verhältnis der Gründerinnen zur eigenen Partei bestätigen. »Die hämischen Kommentare von Parteivertretern sind ein Zeichen, dass man uns ernst nimmt. Sie haben Angst vor Veränderung«, meint Dagdelen. »Aufstehen« wolle keine Partei sein, denn man habe die Botschaft verstanden, dass viele nicht mehr daran glaubten, dass Parteien etwas verändern könnten.
Wie linke gesellschaftliche Mehrheiten in parlamentarische übersetzt werden sollen, wenn gleichzeitig der Frust gegenüber jenen Parteien angeheizt wird, lässt sie offen. Das dürfte aber eine Frage vieler LINKE-Mitglieder sein, die grundsätzlich Sympathie für eine überparteiliche Bewegung hegen, sich aber angesichts der offen ausgetragenen Gegnerschaft zwischen den Stühlen sehen.
»Ich finde die Überproportionalität der Linken hier schade«, sagt eine ältere Künstlerin aus Charlottenburg. Sie sei noch Mitglied bei den Grünen, aufgrund ihrer basisdemokratischen Einstellung dort aber nicht mehr am richtigen Platz. Sie hätte gern mehr Vielfalt bei den Initiatorinnen. Ein anderer pflichtet ihr bei: »Ich habe Sorge, dass das aufgrund der vielen Linksparteiler in ein reines SPD- und Grünen-Bashing abgleitet.«
Eine junge Mutter, die keiner Partei angehört, meint: »Ich hätte mir mehr Transparenz und Ansprechbarkeit gewünscht. Wer genau steckt alles hinter ›Aufstehen‹?« Wenn sie in ihrem Bekanntenkreis über die Bewegung diskutiere, werde oft die Befürchtung geäußert, dass sie sich als Machtbasis für die Linksfraktionschefin Sahra Wagenknecht instrumentalisieren lasse. »Da hätte ich gern klare Argumente, warum das nicht so ist.«
Skepsis über die Intentionen von Wagenknecht wird seit Bekanntwerden des Projekts immer wieder laut. Auch der Verdacht, dass sich unter oder neben dieser Führungsfigur keine wirklichen demokratischen Strukturen entwickeln können. Ob es gelingt, diese Strukturen aufzubauen, ist schwer abzusehen. Aber die Menschen, die in die UFA-Fabrik gekommen sind, zeigen zumindest den Willen. In nahezu jedem Berliner Bezirk bilden sich gerade »Aufstehen«-Gruppen. Alle, die sich zu Wort melden, bekunden, dass sie auf der Suche nach Mitstreitern für ihren Kiez sind. Und sie wollen ganz klassisch Politik machen - nicht nur über das Internet. Bisher bestand »Aufstehen« in erster Linie aus einer großen Online-Umfrage. »Persönliche Begegnung ist ganz wichtig, es braucht den gespürten, realen Austausch«, appelliert eine Frau nachdrücklich.
Inhaltlich herrscht unter den Anwesenden große Einigkeit: Ungleichheit bekämpfen, umverteilen, gegen Lobbyisten und die Wirtschaftsmacht antreten. Auch Umweltschutz, nachhaltige Ressourcennutzung, eine andere Bildungspolitik und das Ende von Rüstungsexporten und Kriegseinsätzen sind vielen ein Anliegen.
Der Geschäftsführer der UFA-Fabrik gibt zu Beginn der Veranstaltung stellvertretend für das alternative Kulturprojekt noch zu bedenken: »Für uns ist kulturelle Vielfalt sehr wichtig. Ich hoffe, dass ihr auch dafür gute Argumente findet.«
Wer befürchtet hatte, dass hier gegen den Zuzug von Migranten oder Geflüchteten gewettert oder »Das Boot ist voll«-Botschaften geteilt werden, der konnte aufatmen. Migrations- und Flüchtlingspolitik kamen als Themen kaum vor. Wohl aber die AfD und der Rechtsruck im Land, den viele als Beweggrund nannten, jetzt wieder aktiv zu werden: »Für mich ist es unvorstellbar, dass eine Partei wie die AfD im Bundestag sitzt. Menschen, die sich in Holocaust-Gedenkstätten daneben benehmen und Geschichte umdeuten wollen«, sagt eine Frau, die nach 42 Jahren Mitgliedschaft kürzlich aus der SPD ausgetreten ist.
Gleichzeitig stellen sich viele die Frage, wie man jene Menschen, die sich aus Frust der AfD zugewandt haben, wieder erreichen könne. Die Linkspartei habe das Interesse daran verloren, die Menschen anzusprechen, die zurückgelassen wurden, findet ein Mann. Sie unterhalte sich lieber mit studierten Hipstern. Er glaubt: »Wir brauchen vor allem positive Visionen. Wir dürfen nicht immer nur sagen, was wir schlecht finden, sondern müssen Lust darauf machen, wie es anders gehen kann.«
Der Berliner »Aufstehen«-Auftakt zeigt: An fehlendem Interesse wird das Projekt nicht sofort scheitern. Einige Unklarheiten aber bleiben: Wie soll das Agenda-Setting funktionieren? Wie wird das Verhältnis der Gründerinnen zu den Aktiven aussehen? Wie lässt sich auch über Bezirksgruppen hinaus eine basisdemokratische Arbeit organisieren? Geplant sind von der Spitze bisher vor allem medienwirksame Kampagnen. Die erste soll zum Tag der Deutschen Einheit an den Start gehen.
Aber wenn die Energie all dieser Leute nicht verpuffen und ähnliche Frusterfahrungen wie in Parteien auftreten soll, dann liegt die größte Herausforderung jetzt wohl darin, Strukturen aufzubauen, die weit über ein Online-Umfragetool und Facebook-Kampagnen hinausgehen. Und wenn »Aufstehen« statt Spaltung wirklich einen Mehrwert zu den Parteien liefern will, dann sollten vor allem Linkparteimitglieder nicht dadurch vergrault werden, dass man ihnen das Gefühl vermittelt, sich in einem parteiinternen Machtkampf für die eine oder andere Seite entscheiden zu müssen.
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