Das Töten und die »Reinheit«
Raja Alem erählt von Sarab, einer saudischen Frau, die als Mann verkleidet in die Unruhen von 1979 gerät
Am Morgen des 20. November 1979 besetzten rund 500 Männer unter der Führung des fundamentalistischen Predigers Dschuhaimān al-’Utaibī den heiligen Bezirk in Mekka und nahmen viele Pilger als Geiseln. Der islamistische Prediger sah das Ende der Welt nahen und rief seinen charismatischen Freund Muhammad ibn Abdillah al-Qahtani zum Mahdi, zum Messias aus. Er forderte eine Rückkehr zum wahren Glauben und eine Abkehr vom Westen.
Das völlig überraschte saudische Königshaus konnte erst nach der Zusicherung einer langfristigen vor allem finanziellen Unterstützung der Missionierung von den wahabitischen Gelehrten eine Fatwa erlangen, die Gewalt im heiligen Bezirk erlaubte und die Stürmung mit Hilfe von Ungläubigen - der französischen Eingreiftruppe GIGN - zuließ. Dieses im Westen wenig bekannte, in der muslimischen Welt aber als große Katastrophe wahrgenommene Ereignis, gilt als Geburtsstunde von Al-Qaida.
In ihrem neuen Roman erzählt die saudische Schriftstellerin Raja Alem von Sarab, einer jungen Frau, die als Mann verkleidet an der Besetzung teilnimmt. Ihre Mutter war nie über die Schande hinweggekommen, dass sie nur ein Mädchen war und zog Sarab als Jungen groß. Wie ihr Bruder soll sie ihre Gefühle nicht zeigen und keine Skrupel beim Töten haben. »He, du Heulsuse, nimm dich zusammen und brich deiner Beute rasch das Genick«, sagt sie einmal, als ihr Bruder Saiffalah bei der Jagd einen Vogel angeschossen hat. Obwohl sie sich nach der Anerkennung und Liebe ihrer Mutter sehnt, kann sie sich dazu nicht überwinden.
Saiffalah dagegen erfüllt alle Forderungen der Mutter. Er tötet den Vogel, zeigt keinerlei Gefühle und radikalisiert sich auch religiös immer mehr. Er schließt sich al-’Utaibī an und nimmt an der Besetzung teil. Sarab folgt ihm. Doch sie hat widersprüchliche Gefühle ihrem Bruder gegenüber. Es ist »eine giftige Mischung aus Unterwürfigkeit und Eifersucht einerseits und andererseits das tief sitzende Gefühl, ihn beschützen zu müssen, das ihre Mutter ihr eingepflanzt hatte. Ihr oblag es, ihn als Wurzel ihrer eigenen Existenz zu beschützen. Denn wenn er verschwand, würde auch sie verschwinden.«
Während Saiffalah von einem der Minarette der großen Moschee aus einen Menschen nach dem anderen tötet, erkennt Sarab den Wahnsinn des Mordens und beschließt zu fliehen. Auf ihrer Flucht aus dem heiligen Bezirk trifft sie auf einen der französischen Elitesoldaten. Es gelingt ihr, ihn zu überwältigen. Sie verrät ihn nicht an die Besetzer, nimmt ihn aber gefangen.
Draußen jedoch, in einem geräumten Haus in der Umgebung des Heiligen Bezirks, wendet sich das Blatt und Raphael, so heißt der Soldat, kann sich befreien. Aber auch er verrät Sarab nicht, stellt stattdessen fest, dass er es mit einer Frau zu tun hat. Langsam wird deutlich, dass beide eine ähnliche, gewalttätige Vergangenheit haben: Auch Raphael wurde zum Töten ausgebildet. Weil sie keine andere Wahl hat, flieht Sarab mit Raphael nach Frankreich.
Raja Alem gelingt es, die widersprüchlichen Gefühle ihrer Hauptfigur überzeugend zu erzählen. Gefühle, die einerseits durch die beduinisch-muslimischen Kultur geprägt sind, aus der Sarab kommt, und andererseits durch die Freiheit des westlichen Lebens. Die nimmt Sarab zunächst als Bedrohung wahr, weil sie ihre »Reinheit« in Frage stellt.
»Sie hatte erwartet, dass er auf das Wort Reinheit reagierte, aber er ließ sich nichts anmerken. Für sie war die Reinheit etwas, das ihr bei Tag und bei Nacht keine Ruhe ließ, das an ihr nagte. Auf immer die Quelle eines Schuldgefühls.« Ihre Gefühle Raphael gegenüber sind auch deshalb zunächst ambivalent. Aber das ist es nicht, was letztlich die Liebe zwischen den beiden in Frage stellt.
Raja Alem: Sarab. Roman. Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich. Unionsverlag, 352 S., geb., 24 €.
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