Ohnmacht und Ermächtigung

Rechtsextremismus-Experte David Begrich über die DDR, Wendeerfahrungen und Köthen

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 7 Min.

Als Mitte September Hunderte Rechtsradikale durch Köthen zogen, waren Sie als Beobachter anwesend. Was war Ihr Eindruck?

Spektrenübergreifend befindet sich das rechte Milieu in einem Mobilisierungszustand. Es sieht derzeit ein Gelegenheitsfenster für einen neuen Aufbruch, dessen Schwerpunkt in Ostdeutschland liegt. Nach Cottbus und Chemnitz wollte man auch in Köthen einen Hotspot für diese rassistischen Mobilisierungen schaffen. Köthen ist aber kein zweites Chemnitz geworden. Es gab ein klares Konzept der Polizei. Auch hat es vor Ort der Kommune und der Zivilgesellschaft nicht die Sprache verschlagen, wie das zunächst in Chemnitz der Fall war. Über Reaktionen in der Stadt im Einzelnen lässt sich trefflich streiten. Wichtig bleibt aber, die Perspektive der Einwohner der Stadt - auch und gerade die der Migranten - nicht aus den Augen zu verlieren.

David Begrich

David Begrich ist Mitarbeiter der Arbeitsstelle Rechtsextremismus bei dem Verein Miteinander e. V. in Magdeburg. Der 46-Jährige schrieb im Nachgang der rechten Proteste von Chemnitz und Köthen einen Offenen Brief an seine »lieben westdeutschen Freund/innen«, in dem er die Geschehnisse auch mit historischen Erfahrungen erklärte.

Was meinen Sie mit »neuem Aufbruch«? Was waren die alten?

Die Rechten benutzen eine finalisierende Rhetorik. Da ist die Rede vom »Sturz des Merkel-Regimes« oder einer neuen »System-Wende«. Ich glaube dagegen, dass die aktuellen rechten Proteste einen zyklischen Charakter haben und weiter zurückliegen. Der gegenwärtige Zyklus begann meines Erachtens 2013 mit den sogenannten Lichtelläufen in Schneeberg und wurde dann 2014 mit den Pegida-Demonstrationen fortgesetzt. Die sich wiederholenden Protestwellen zielen letztlich auf eine rechte Diskursverschiebung und eine Radikalisierung der Bevölkerung ab. Das Berührungstabu zwischen offen rechtsextremen Gruppen und einem Teil der Bürger ist ja nicht erst in Chemnitz gefallen. Diese Zyklen können wir seit Beginn der 1990er Jahre beobachten.

Und dieser Prozess findet hauptsächlich in Ostdeutschland statt?

Niemand bestreitet, dass es in Westdeutschland Rechtsextremismus und Rassismus gibt. Diese Phänomene äußern sich aber aufgrund der politischen Kultur in Ostdeutschland anders. Der Motor für zahlreiche rechte Straßenmobilisierungen liegt hier, die Protestbereitschaft ist höher, die rechtsextremen Organisationen haben eine größere Reichweite, kommunizieren strategischer. Das hat vielfältige Ursachen.

Ein Blick in die Vergangenheit: Welche Rolle spielten rechtsradikale Funktionäre aus dem Westen, die in der Nachwendezeit im Osten Strukturen aufgebaut hatten?

Nach der Wiedervereinigung suchten rechtsradikale Funktionäre aus dem Westen ihren Resonanzraum im Osten - und fanden ihn auch. Schon die Führungsleute der NPD und der Neonazi-Kameradschaften sahen im Osten ein Eldorado der Entfaltung ihrer Wirksamkeit. Das ist bis heute so. Aber das Wirken westdeutscher rechter Funktionäre allein für den Rechtsextremismus im Osten verantwortlich zu machen, verkürzt die komplexe Gemengelage.

Welche kollektiven ostdeutschen Erfahrungen gehören zu den Ursachen?

Die unmittelbare Umbruchphase der Wende war prägend, einen größeren Einfluss übte aber wohl die Transformationsgesellschaft der 1990er Jahre aus. Der Arbeitsplatz, die Autorität der Polizei, die Lebenserfahrung der Eltern, der Lehrer, die Berufsabschlüsse - alles stand in Frage. Die damals jungen Menschen erlebten so eine Gleichzeitigkeit von Selbstermächtigung, Gewinn an Freiheit und dem Gefühl von Ohnmacht.

Was meinen Sie damit?

Wir reden über eine Generation, die innerhalb von Wochen einen Staat stürzte. So etwas prägt. Aus dieser Generation kamen aber auch jene, die in der Folge von Hoyerswerda über Jahre faktisch schrankenlos rechte und rassistische Gewalt ausübten. Es entstand eine hegemoniale rechtsextreme Jugendkultur. Diese »Generation Hoyerswerda«, die damals Steine warf, hat bis heute Einfluss auf das gesellschaftliche Klima. Auf einem anderen Blatt steht, dass sich die oftmals märchenhaften Erwartungen, die die Menschen an die Wiedervereinigung hatten, in der Wahrnehmung vieler ins Gegenteil verkehrten. Das betrifft den Umgang mit beruflichen und biografischen Erfahrungen, aber auch die generelle Repräsentanz des DDR-Lebens im wiedervereinigten Deutschland.

Worin zeigte sich das?

Die Wiedervereinigung hatte nicht auf Augenhöhe stattgefunden. Als gültig galt das Narrativ einer westdeutschen Erfolgsgeschichte, und viele Menschen fragten sich, wo ihre Erinnerungen an die Widersprüchlichkeit des DDR-Lebens ihren Platz haben. Es gab nicht nur einen Elitenaustausch, sondern einen völligen Umbruch von Werten, sozialen Praxen und gesellschaftlichen Leitbildern, der keine Rücksicht auf ostdeutsche Erfahrungen nahm. Bis heute geben Westdeutsche im öffentlichen Diskurs den Ton an, ostdeutsche Erfahrung und Kultur gilt als geschichtlich abgeschlossene Sondersammlung fürs Museum.

Die Ostdeutschen als Opfer des Westens?

Nein. Man darf nicht den Fehler machen und die Ostdeutschen kollektiv zum Opfer westdeutschen Handelns erklären, das trifft nicht zu. Es gibt auch ein sehr schwieriges Verhältnis der Ostdeutschen untereinander zu ihrer Diktaturvergangenheit. Selbstkritik und Reflexion wurden hier oft abgewehrt mit dem Verweis auf eine westdeutsche Dominanz der Deutung der DDR-Erfahrung. Zur Wahrheit gehört auch, dass es in der DDR eine linksautoritäre politische Tradition gab, an die nun von einer rechtsautoritären Politik angeknüpft werden kann.

Was machte diese linksautoritäre Politik aus?

Der DDR-Bürger wurde von einem vormundschaftlichen Staat erzogen. Jede Regung von Eigeninitiative, Kreativität und Selbstorganisation erstickten die Behörden im Keim. Diese Faktoren haben autoritäres Denken und Konformismus gefördert. In der DDR wirkten dabei linksautoritäre und nationalistische Mechanismen zusammen. Der Widerspruch zwischen der propagierten Völkerfreundschaft auf der einen Seite und dem Ausschluss der Vertragsarbeiter aus dem DDR-Alltag auf der anderen ist offensichtlich. Es war nicht gewollt, den Migranten eine soziale oder kulturelle Teilhabe zu ermöglichen. Ein nie ausgesprochener, aber untergründig sehr wohl vorhandener Rassismus gehörte zum Umgang.

Zu den rechtsradikalen Protesten gehen heute aber auch viele junge Ostdeutsche, die keine DDR-Sozialisation mehr haben. Was treibt diese an?

Es geht nicht nur um Rassismus, Statusangst spielt eine Rolle. Die Anwesenheit der Migranten wird hochgerechnet auf die eigenen Lebenschancen, die eigene soziale Situation. »Warum ist für die Flüchtlinge Geld da, aber nicht für die Schulsanierung?«, mögen sich einige fragen. Die extreme Rechte treibt die Ethnisierung sozialer Widersprüche massiv voran. Sie ist ja auch zentrales Element in den rassistischen Protesten. Dieser Ethnisierung muss entschieden widersprochen werden.

Viele junge Ostdeutsche ziehen mitunter auch aufgrund der politischen und kulturellen Verhältnisse aus ihren Herkunftsorten weg. Welche Folgen hat das?

Wenn Jahr für Jahr kreative, gut ausgebildete und auch flexible Menschen, die ja die vorhandenen Gestaltungsspielräume ausfüllen könnten, verloren gehen, ist das ein Problem. Oft geht es bei den Gründen um Bezahlung und Arbeitsplätze, aber nicht nur. In den Metropolen können sie im Gegensatz zu ihren Herkunftsorten soziale Erprobungsräume und einen Resonanzraum finden. Zurück bleiben die Menschen, die real oder gefühlt handlungsohnmächtig sind.

Für linke Akteure scheint es im Osten schwieriger zu werden, diese Ohnmacht zu adressieren. Verliert die Linkspartei heute Wähler in den neuen Bundesländern, weil sie sich antirassistisch positioniert?

Es ist komplizierter. Die Gesellschaft ist heute in allen Bereichen fragmentierter als noch vor zehn Jahren. Es ist nicht so leicht, politisch herauszuarbeiten, wo Solidarität milieuübergreifend erfahrbar wird. Wichtig ist die Frage, wer sich durch wen vertreten fühlt. Nach der Wende gab es einen Ansehensverlust für Menschen, die kein bildungsbürgerliches Auftreten haben. Wo finden sich diese Menschen denn heute repräsentiert? Das ist kein Plädoyer für die Wiederkehr des Prolet-Kultes, sondern für eine nicht ausschließlich metropolen- und mittelschichtsorientierte Perspektive. Es braucht die Verbindung einer kosmopolitischen Wahrnehmungsfähigkeit für die Welt und gleichzeitig eine Orientierung an dem widerspruchsvollen Alltag, der sich vor der Kaufhalle abspielt. Das bedeutet auch, sich auf Menschen einzulassen, die Ressentiments artikulieren - ohne diese zu bedienen.

Welche Gründe gibt es noch für die Abkehr von demokratischen Parteien?

In der ostdeutschen Gesellschaft gibt es einen hohen Pragmatismus im Umgang mit Parteien. Jede wurde seit der Wende mal ausprobiert. Erst war man bei der Kohl-CDU, dann bei der PDS beziehungsweise der Linkspartei. Als sich die Erwartungen, gerade im Bezug auf die Veränderung des Hartz-IV-Systems, nicht erfüllt hatten, wendete man sich auch wieder von ihr ab. Nach dem autoritären Politikverständnis sollen Parteien die Rolle von Wunscherfüllern einnehmen, wenn sie das nicht können, werden sie nicht mehr gewählt. Es geht nun nicht nur darum, dass Parteien ihre Kommunikation ändern. Die Frage ist doch, wo Menschen die reale Veränderbarkeit der Verhältnisse zu ihren Gunsten noch erleben können. Die Ohnmacht muss aufgebrochen werden.

Nächstes Jahr stehen mehrere Wahlen in den neuen Bundesländern an, die AfD kann mit Zugewinnen rechnen. Mit welcher Strategie kann ihr Einhalt geboten werden?

Es gibt nicht die eine Strategie, aber es bräuchte sicher ein sehr heterogen zusammengesetztes Bündnis von politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Akteuren, in dem auch Widersprüche ausgehalten werden können - im Spannungsfeld zwischen christlicher Jugendinitiative, Migrantenorganisation und feministischer Frauengruppe. Die Angriffe von Rechtsaußen richten sich ja nie nur gegen ein soziokulturelles Zentrum oder eine Theatergruppe. Angegriffen ist die offene Gesellschaft. Es braucht differenzierte Antworten auf grobe Angriffe.

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