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Kleine Träume irakischer Kurden

Kompetenzgerangel und Hinterzimmerpolitik dominieren in der Autonomen Region Kurdistan

  • Oliver Eberhardt, Erbil
  • Lesedauer: 7 Min.

Es gibt Fleisch, Berge von Fleisch, Gemüse, Reis, die gut 20 Menschen rund um den Tisch in einem guten Restaurant im Zentrum von Erbil sprechen laut, lachen lauter. »Entschuldigen Sie bitte den Lärm«, sagt ein Mann, der sich kurz darauf als Ali, 52, vorstellt: »Unser Sohn hat gerade seinen Universitätsabschluss bestanden. Komm’ her Sohn, zeig’ Dich den Leuten«, ruft der stolze Vater, während sein gräulicher Schnurrbart im Licht schimmert und die anderen Gäste neugierig aufschauen. Ein junges Paar applaudiert leise, und Khosrow rückt mit schüchternem Blick die schwarze Krawatte zurecht. Betriebswirtschaft habe er studiert, erzählt er: »Ich wollte immer ein eigenes Unternehmen, Arbeitsplätze schaffen, Geld verdienen.« Er hebt resigniert die Arme, lächelt mit verbittertem Gesichtsausdruck: »So wie es im Moment aussieht, habe ich mir wohl zu viel erhofft.«

Denn sein akademischer Erfolg wurde begleitet vom Scheitern eines Landes: Als Khosrow Anfang 2014 das erste Mal in einem Hörsaal der Salahaddin-Universität in Erbil Platz nahm, erlebten die Menschen in der Autonomen Region Kurdistan (ARK) einen wirtschaftlichen Aufschwung. Es wurde viel und hoch gebaut, mit glitzernden Glasfassaden und Blumen vor dem Eingang. Während in den anderen Landesteilen Iraks die Infrastruktur bröckelte, die Arbeitslosigkeit hoch war, siedelten sich in der ARK ausländische Unternehmen an, türkische, iranische, europäische Firmen. Auf den internationalen Flughäfen von Erbil und Sulaimanya herrschte Hochbetrieb, europäische und arabische Fluglinien boten Linien- und Frachtflüge an. »In meiner Familie waren wir immer einfache Arbeiter und Bauern, an ein Studium war nie zu denken gewesen«, sagt Khosrow. »Aber dann kam diese Zeit. Es gab Stipendien und die Studiengebühren wurden gesenkt, und alle haben davon gesprochen, wie unser Kurdistan irgendwann ein reicher, unabhängiger Staat sein wird.«

Doch heute ist die ARK von alledem weit entfernt: Der Verfall ist allerorten deutlich sichtbar. Die allermeisten der ausländischen Unternehmen haben sich aus der Region zurückgezogen, viele der Bürogebäude sind heute verlassen. Fährt man aus Erbil heraus in Richtung Süden, dorthin, wo der »Islamische Staat« (IS) bis zum vergangenen Jahr die Kontrolle hatte, kommt man an riesigen Flüchtlingslagern vorbei, in denen die Menschen darauf warten, zurückkehren zu können, in ihre Dörfer, in die Großstadt Mossul. Wann das sein wird? Niemand weiß es: Der IS hat selbst gebaute Sprengfallen zurückgelassen, die meist nicht töten, sondern schwerst verletzen, und überdies auch noch ausgesprochen leicht zu übersehen sind. Das Räumen dieser Fallen sei schwierig und zeitaufwendig, sagen Mitarbeiter der Vereinten Nationen, es gebe nicht genug Experten mit der notwendigen Ausrüstung. Und weil es anders als bei Landminen und industriell hergestellten Bomben keine Pläne gibt, nach denen man sich bei der Entschärfung richten kann, muss bei jeder dieser Fallen einzeln geklärt werden, wie sie funktioniert. Und dann sind da noch die vielen Tausend Gebäude, die im Kampf um Mossul zerstört wurden. Milliarden US-Dollar wären notwendig, um die Gegend einigermaßen bewohnbar zu machen. Millionen stehen zur Verfügung.

In einem dieser Flüchtlingslager sitzt am Tag nach der Abschlussfeier in Erbil der 34-jährige Rafael Marchessau, Franzose, der im Auftrag der Vereinten Nationen Hilfsmaßnahmen koordinieren: »Ein extrem frustrierendes Unterfangen ist das«, sagt er, »selbst kleinste Dinge haben hier ein immenses Kompetenzgerangel zur Folge.« Denn hier, rund um Mossul, ist absolut nichts klar: Der Grenzverlauf zwischen der ARK und Rest-Irak wurde nie detailliert festgelegt, immer wieder versucht die eine oder die andere Seite, vorzurücken, bricht Streit darüber aus, wer die ölreiche Region rund um Tikrit weiter östlich kontrolliert, oder wie weit sich die ARK in Richtung Mossul ausbreiten darf. Und um alles noch komplizierter zu machen, sind beide Seiten auch noch selbst gespalten: Auf Seiten des irakischen Militärs kämpfte auch ein Verbund aus schiitischen Milizen, die sogenannten Volksmobilisierungskomitees (VMK), gegen den IS; mittlerweile machen die VMK, gut mit Waffen und Munition versorgt, ihr eigenes Ding, rücken des Öfteren in die ARK vor, wo es dann zu Kämpfen mit den Peschmerga genannten kurdischen Milizen kommt. Und die Peschmerga wiederum teilen sich in jene auf, die der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) loyal sind, und jene, die der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) folgen.

Schon seit den 90er Jahren liegen diese beiden Parteien im Streit miteinander. Ein von 1994 bis 1997 währender Bürgerkrieg in der Region endete mit der Spaltung Irakisch-Kurdistans in einen von der KDP und einen von der PUK kontrollierten Landesteil, bis dann 2005 wieder eine gemeinsame Regierung in Erbil zustande kam. Doch die Rivalität ist geblieben; ständig gibt es Streit, »nervtötenden Streit«, sagt Marchesseau: »Wenn ich mit Vertretern der Peschmerga spreche, habe ich oft den Eindruck, dass ich nicht mit dem kurdischen Militär, sondern einer politischen Partei verhandele, und es zunächst einmal um deren Interessen geht.« Auch in der kurdischen Öffentlichkeit ist der Frust über Politik und Peschmerga weit verbreitet. Doch wenn man mit den Führungen der KDP, der PUK spricht, dann stellt man schnell fest: Oben angekommen ist die Nachricht nicht. So sitzt Masud Barzani, Vorsitzender der KDP, einige Tage nach der Parlamentswahl Ende September in seinem Büro. Er sehe doch überhaupt kein Problem, sagt er: »Wir haben die Wahl überzeugend gewonnen, haben sogar mehr Sitze als vorher.« Und auch Kosrat Rasul Ali, Chef der PUK, wird kurz darauf die Zugewinne bei den Mandaten hervorheben. Dass es schlecht laufe, in dieser einen einzigen Frage sind sich beide einig, daran seien die anderen Schuld: KDP, PUK, die irakische Regierung, die internationale Gemeinschaft.

Doch dass die KDP sieben, die PUK drei Sitze hinzu gewonnen haben, bedeutet mitnichten, dass die öffentliche Unterstützung gestiegen ist; in absoluten Stimmen haben beide sogar leicht verloren, aber: »Ich sag’s mal so«, erklärt Khosrow, der Ex-Student: »Wer wie viele Sitze im Parlament hat, ist doch völlig egal - die machen ihre Politik doch ohnehin im Hinterzimmer ohne jemanden zu fragen.« Denn das Parlament tagt selten und unregelmäßig. Als es im Juli zum letzten Mal zusammenkam, beschloss man überdies, ohne Diskussion, das Amt des Präsidenten nicht neu zu besetzen, und dies der Regierung zu übertragen. Im November vergangenen Jahres war Masud Barzani von der Präsidentschaft zurückgetreten, nachdem ein Unabhängigkeitsreferendum im September 2017 zum offenen Konflikt mit der irakischen Zentralregierung geführt hatte. Sein Neffe Nechschirwan Barzani, der die Regierung führt, wird, so er in dem Amt bestätigt wird, künftig zusätzliche Macht haben. Sehr zum Leidwesen der liberalen Neupartei »Bewegung der neuen Generation« (BnG) rund um den Medienunternehmer Schaswar Abdulwahid Kadir. »Wir brauchen klare politische Strukturen und Entscheidungsmechanismen, eine unabhängige Justiz, mehr öffentliche Debatten, wenn wir unsere Eigenständigkeit bewahren wollen«, sagt er. Acht Sitze erhielt seine Partei auf Anhieb, und das, obwohl seine eigenen Fernsehsender keine Wahlwerbung für die BnG gemacht haben, und die Infrastruktur der BnG kaum ausgebaut ist. »Unsere Wähler sind anspruchsvoll«, sagt er, »sie wollen die Demokratie. Und wir haben von Anfang an gesagt: Es wird in der derzeitigen Situation schwierig werden, wirklich etwas zu verändern. Für uns geht es erst einmal darum, Rechenschaft von den großen Parteien einzufordern.«

Mit Aussagen wie diesen punktet er vor allem bei jungen, gut ausgebildeten Menschen wie Khosrow. Kadir sei jemand, »zu dem man aufschaut und sagt, dass man das auch erreichen will«, sagt der junge Mann, »ich will in einer westlichen Demokratie leben, und trotzdem meine Heimat nicht verlassen müssen. Ich will, dass wir eines Tages auf das zeigen können, was wir aufgebaut haben, und die Frage stellen können, mit welcher Begründung man uns die Unabhängigkeit immer noch verweigert.« Denn die Unabhängigkeit, das ist, egal wen man fragt, immer noch der große Traum der irakischen Kurden.

Doch in solchen Gesprächen wird dann auch stets deutlich, dass die türkischen, syrischen, iranischen Kurden dabei in der Wahrnehmung der irakischen Kurden keine Rolle spielen, und man auch mit den politischen und militärischen Konflikten in diesen Gebieten nichts zu tun haben möchte. Dass Organisationen wie die PKK oder iranisch-kurdische Oppositionsgruppen auf dem Gebiet der ARK Basen errichtet haben, ist hier stark umstritten, die Befürchtung in weitere Konflikte hinein gerissen zu werden, ist weit verbreitet. Gegen die PKK geht regelmäßig das türkische Militär auf ARK-Gebiet vor; wahrscheinlich geschieht das mit Zustimmung aus Erbil. »Die Regierung muss sich auf die Wirtschaft und politische Reformen konzentrieren«, sagt Khosrow. Dann ist das Gespräch zu Ende; es gibt Kaffee und Kuchen: »Wer weiß, wie lange wir uns das noch leisten können.«

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