Vorteil für chronisch Kranke
AOK Baden-Württemberg macht Ernst mit der Stärkung der Hausärzte - ein Selektivvertrag zeigt nach zehn Jahren nachhaltige Erfolge
Eine ambulante Versorgung, in der Hausärzte im Mittelpunkt stehen, scheint schon länger sinnvoll. Gesundheitspolitisch taucht das Thema seit Jahren immer wieder einmal auf, ohne dass sich tatsächlich etwas ändern würde: Patienten suchen diesen oder jenen Facharzt aus eigener Initiative auf, was nicht immer medizinisch sinnvoll ist. Unter dem Strich wird auch auf diesem Weg ein im internationalen Vergleich äußerst hoher Wert bei der Zahl der jährlichen Arztkontakte erreicht: Schon bald 20 dieser Konsultationen sind es jährlich pro Person in Deutschland.
Seit im Jahr 2007 Selektivverträge von gesetzlichen Krankenkassen mit Ärztegruppen möglich wurden, wagten einige Akteure in Baden-Württemberg sich an eine hausarztzentrierten Versorgung. Die AOK des Bundeslandes schloss 2008 einen entsprechende Vertrag nicht nur mit dem Hausärzteverband, sondern auch mit dem Mediverbund Baden-Württemberg, der niedergelassene Ärzte aller Facharztgruppen vertritt, darunter auch Allgemeinmediziner. Weitere Vertragspartner, wie etwa der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, kamen hinzu. Zehn Jahre nach dem Start des Hausarztvertrages wurden am Dienstag in Berlin erste Ergebnisse vorgestellt.
Wissenschaftlich begleitet wurde das Projekt von Forschern der Universitäten Frankfurt am Main und Heidelberg. Sie fanden heraus, dass die in den Vertrag eingeschriebenen Patienten von Jahr zu Jahr mehr profitierten. Nicht nur, dass alle von den Zuzahlungen für verschriebene Medikamente befreit wurden, was die AOK im vergangenen Jahr 35 Millionen Euro kostete. Insgesamt sanken die Arzneimittelkosten aber um 6,2 Prozent. Knapp 90 000 Patienten über 65 Jahre konnten pro Jahr 5400 riskante Arzneimittel weniger verordnet werden.
Eingeschrieben haben sich in den Vertrag 1,6 Millionen AOK-Versicherte im Südwesten. 60 Prozent von ihnen sind chronisch krank. Die Diabetiker unter diesen wurden im Verlaufe von sechs Jahren vor etwa 4000 schweren Komplikationen bewahrt, darunter vor der Dialysepflicht, vor Erblindung oder Amputationen. Den beteiligten Herzpatienten bleiben jährlich 46 000 Krankenhaustage erspart, dafür sind ihnen ambulant innovative Untersuchungen zugänglich wie etwa eine Messung der Durchblutung der Herzkrankgefäße. In der Regelversorgung ist das noch nicht angekommen. Erfolgreich zeigt sich der Vertrag etwa auch bei unspezifischen Rückenschmerzen. Hier wurden die Fachärzte zwischen 2014 und 2016 fast nur noch nach Überweisung durch den Hausarzt in Anspruch genommen, es gab deutlich weniger bildgebende Untersuchungen und pro Jahr 1000 weniger Krankenhausaufnahmen sowie pro Patienten 8,5 Krankschreibungstage weniger. Weitere Daten deuten sogar auf einen leichten Überlebensvorteil aller eingeschlossenen Versicherten hin. Im Vergleich mit einer gleich großen Gruppe in der Regelversorgung war die Zahl der Todesfälle um 1700 geringer, jedenfalls für den Zeitraum von 2012 bis 2016.
Zwar stieg der Aufwand im ambulanten Sektor, unter anderem dadurch, dass Patienten den nötigen Facharzttermin spätestens in 14 Tagen, wenn nötig sogar am gleichen Tag bekommen oder Abendsprechstunden verpflichtend sind. Gleichzeitig macht die engmaschige, qualifiziertere Betreuung aber auch Krankenhausaufenthalte unnötig, womit der AOK in dem Bundesland 5,3 Prozent weniger Kosten in der stationären Versorgung entstehen. Unter dem Strich liegen die Einsparungen bei 8,2 Prozent gegenüber der Regelversorgung. Sie resultieren auch aus 1,2 Millionen weniger Facharztkontakten pro Jahr bei einer Gruppe von einer Million Versicherten.
Knapp 5000 Allgemeinmediziner sowie sowie etwa 2500 Fachärzte und Psychotherapeuten sind bislang Teilnehmer am Hausarztvertrag. Im bisherigen Verlauf kamen seit 2010 immer neue Facharztgruppen hinzu, 2019 sollen es die Hals-Nasen-Ohren-Ärzte, Lungen- und Nierenspezialisten sein. Die Beteiligung ist für die Ärzte vorteilhaft, ihre Vergütung ist transparent und kalkulierbar, zudem liegt sie 30 Prozent über dem Niveau der Kassenärztlichen Vereinigung.
Von den beteiligten Akteuren bei der AOK und in der Ärzteschaft kann sich niemand erklären, warum angesichts der erkennbaren Vorteile eines solchen Herangehens weitere Kassen nicht mit mehr Nachdruck an ähnlichen Modellen arbeiten. Auch in der Politik scheint das Interesse gering, endlich die Problematik von Über-, Unter- und Fehlversorgung nachhaltig anzugehen, wie Ferdinand Gerlach von der Universität Frankfurt am Main kritisiert.
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