Gedanken zum Federbüschel

Heute vor 20 Jahren hielt der Schriftsteller Martin Walser, der sich auch als Kunstrichter verstand, seine Paulskirchenrede

  • Jonas Engelmann
  • Lesedauer: 6 Min.

Das geplante Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas sei »die Betonierung des Zentrums der Hauptstadt mit einem fußballfeldgroßen Alptraum. Die Monumentalisierung der Schande«, führte Martin Walser vor genau zwanzig Jahren in seiner berüchtigten Paulskirchenrede aus. Die Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels nutzte der Schriftsteller, um sich Luft zu machen und um sich persönlich und die Deutschen zu befreien von der »Moralkeule Auschwitz«, die von Medien und Politik geschwungen werde, um den Deutschen ihre Schuld wieder und wieder vorzuführen.

Stella Hindemith merkte kürzlich in der »Zeit« an, die Rede und die ihr folgende Debatte seien inhaltlich, formal und in ihrer Funktion ein Lehrstück des Rechtspopulismus gewesen, »von der Forderung nach einem Schlussstrich unter der Geschichte über die Behauptung, das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas sei eine Schande, über Medien, die als Handlanger einiger weniger auftreten, und eine kleine Gruppe Leute, die die Macht haben, den öffentlichen Diskurs zu manipulieren und ›die Deutschen‹ in Geiselhaft nehmen.« Die der vor 20 Jahren vorgetragenen Rede folgende Feuilletondebatte verschob die Grenzen des Sagbaren noch ein wenig weiter. »Ich war in diesem Feld beschäftigt, da waren Sie noch mit ganz anderen Dingen beschäftigt«, warf Walser beispielsweise während eines Gesprächs im Dezember 1998 Ignatz Bubis vor, dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland. Walser meinte mit »diesem Feld« die sogenannte Aufarbeitung des Nationalsozialismus.

Walser forderte somit einen Blick zurück in jene Zeit, als Bubis »noch mit ganz anderen Dingen« beschäftigt war - gemeint sind damit die späten 60er Jahre, als Bubis in Frankfurt im Immobilienhandel tätig war. Und der Blick auf den jungen Walser der 60er Jahre kann tatsächlich viel über den Walser der Gegenwart erzählen. 1970 veröffentlichte der damalige DKP-Sympathisant in Hans-Magnus Enzensbergers »Kursbuch« den Essay »Über die neueste Stimmung im Westen«, in dem Walser sich in die Tradition des engagierten Schriftstellers einsortiert, eine Tradition des öffentlichen kritischen Wortes, in der er im Nachhinein sicherlich auch seine Rede von 1998 verorten würde. 1968 hatte er neben Bewunderung für Bertolt Brecht vor allem Lob für die Wortmeldungen von Günter Grass: »Ich muss Grass einfach bewundern, wenn er auf seine SPD-Tour geht; bewundern nicht wegen des Bekenntnisses zum SPD-Inhalt, sondern wegen seiner Fähigkeit, eine praktische Konsequenz zu ziehen.« Doch zum Leidwesen von Walser hatten nicht alle Gegenwartsautoren solche »praktischen Konsequenzen« im Sinn.

Die »neueste Stimmung im Westen« stand in Walsers Augen für eine politische wie auch künstlerische Naivität, für einen »schick zeitgenössisch frisierten Künstlerquatsch«, wie er es im Essay formuliert. Solchen »Künstlerquatsch« produzierten seiner Ansicht nach Autoren wie Peter Handke und Rolf Dieter Brinkmann sowie all jene US-amerikanischen Schriftsteller, Musiker und Theoretiker, die Brinkmann gemeinsam mit Ralf-Rainer Rygulla kurz zuvor in der Anthologie »Acid« versammelt hatte, die die literarische Subkultur der USA der 60er Jahre dokumentierte: Leslie Fiedler, Frank Zappa, Leonard Cohen, Chester Anderson, Jonas Mekas und andere.

»Die neueste Stimmung artikuliert sich, wenn Rolf D. Brinkmann einem Kritiker gegenüber nach einem Maschinengewehr ruft«, führt Walser aus, dies sei keine politische Meinung, keine Stimme eines engagierten Autoren, sondern »der Autor als Botschaft«. Wenn etwa Leslie Fiedler Western, Science Fiction und Pornografie als wichtige Elemente der neuen Literatur benennt und Traum, Rausch und Ekstase höher bewertet als den »Nutzen« der Kunst für die Gesellschaft, kann Walser nur mit dem Kopf schütteln, diese Wortmeldungen seien »so weit als möglich weg von einer Ausdruckspraxis, die die Welt noch mit Hilfe kritischer Abbilder korrigieren wollte oder die, selbst wenn die Schreiber das nicht beabsichtigt hatten, ganz von selbst brauchbar schien als ein Mittel zur Ausbildung eines kritischen und dadurch zur Veränderung drängenden Bewusstseins vom gesellschaftlichen Zustand«. Stattdessen muss der DKP-Schriftsteller sich von dem litauischen Avantgardefilmemacher Jonas Mekas anhören: »Seit die Welt besteht, haben sie sie verändert. Und - ’nen erstklassigen Mist haben sie daraus gemacht. Das ›Engagement‹ des nutzlosen Künstlers besteht darin, sich der Welt zu öffnen.«

Diese Autoren der »neuesten Stimmung« wollen sich nicht der Welt öffnen, sich nicht einfügen in die »praktische Konsequenz« eines Grass, nicht in den Sozialismus, wie Walser ihn sich seinerzeit vorstellt. Stattdessen nennen sie sich selbst die »neuen Irrationalisten« (Fiedler), die »neuen Juden« (Cohen) oder die »Kosmonauten des Innern« (Brinkmann), wären »am liebsten nur mit sich selbst identisch«, wie Walser es Peter Handke vorhält: »Dass einer keine Alternative weiß, geschenkt. Aber dass es ihm egal ist, dass er keine weiß, das sollte ihm, glaube ich, nicht egal sein.« Die »Bewusstseinserweiterung nach Innen« statt die Revolution anzustreben, bei sich selbst mit der Veränderung der Welt zu beginnen, statt die Grass’sche »SPD-Tour« zu vollziehen, ist in Walsers Augen nicht nur unverständlich, sondern sogar gefährlich: »Ich halte es für möglich, dass in diesen neuesten Stimmungen die Bewusstseinspräparate für die neueste Form des Faschismus hergestellt werden.« Blickt man auf das Individuum und nicht auf die gesamte Gesellschaft, nach innen statt nach außen, produziert man von Traum, Drogen und Porno beeinflusste Lyrik statt ›engagierter Literatur‹, so »stirbt« Walser zufolge »mit jedem Ausflug ins Innere eine demokratische Möglichkeit ab und die Möglichkeit zum Gegenteil - und das heißt Faschismus - nimmt zu.« Doch was tun mit den zum Faschismus tendierenden »narzisstischen Existenzen«, die der Gesellschaft keinen Nutzen bringen? Um dies zu beantworten, zieht Walser Darwin heran: »Der Federbüschel auf der Brust des wilden Truthahns dürfte keinerlei Nutzen haben, und es ist zweifelhaft, ob er in den Augen der Henne als Zierde gilt. Hätte sich dieser Büschel erst im Zustande der Domestikation gezeigt, so würden wir ihn zweifellos eine Monstrosität nennen.« Dass diese von Darwin beschriebene Monstrosität von Evolutionstheoretikern auch als »Entartung« beschrieben wurde, muss der Popliteraturkritiker Walser nicht gewusst haben. Dass jemand 1970 unliebsame Kunst, die er nicht versteht, als überflüssig bezeichnet, das »sollte ihm, glaube ich, nicht egal sein«, angesichts der damals noch sehr jungen nationalsozialistischen Vergangenheit.

»Nichts macht so frei wie die Sprache der Literatur«, weiß Walser dreißig Jahre später in der Paulskirche, diese Freiheit ist für ihn 1970 jedoch nicht die »Freiheit der Andersdenkenden«, wie man es bei einem auch an Rosa Luxemburg geschulten Kommunisten wie Walser erwarten dürfte, sondern seine persönliche Freiheit, in blumigen Metaphern »unnützer«, monströser Kunst nicht nur das Existenzrecht abzusprechen, sondern sie darüber hinaus zu einem Wegbereiter des Faschismus zu erklären.

Seinen Essay aus dem Jahr 1970 beendet er mit den Worten: »Der Schriftsteller, der eine gesellschaftliche Lizenz zum Narzissmus ausbeutet, ist auf die feinste Weise domestiziert, deshalb ist seine scheinbar wilde oder bizarre oder verachtungsreiche oder feindselige persönliche Aufführung samt seinen privilegierten Freiheitstänzen nichts als monströs.« Einzig die Genugtuung, dass seit 1970 Peter Handke, Leonard Cohen oder Frank Zappa gesellschaftlich wirkungsvoller waren als Walser mit all seinen Romanen zusammen, lässt da noch etwas aufatmen. Doch Handke behält Recht: »Ich muss freilich sagen, dass mich, wenn ich solche Sätze lese, sekundenlang eine kalte Amoklaufwut befällt.«

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