Die LINKE und die EU: Ja, Nein, Enthaltung

Die Positionen zur europäischen Integration sind in der Partei vielfältig

  • Wulf Gallert
  • Lesedauer: 8 Min.

Gabi Zimmer bezeichnet die Situation der LINKEN auf der europäischen Ebene als defensiv. Und das tut sie völlig zu Recht. Dies hat natürlich etwas mit den veränderten politischen Kräfteverhältnissen in den Mitgliedsländer der EU zu tun, aber eben auch, und das ist hier der springende Punkt, mit der ungeklärten Position der LINKEN zur europäischen Integration. Die aktuellen Debatten dazu in der LINKEN illustrieren das deutlich. In der Vorbereitung der Wahlen zum Europäischen Parlament kommen wir aber nicht umhin, ein in sich schlüssiges politikfähiges Angebot den Wählerinnen und Wählern zu unterbreiten, mit dem wir einige strittige Fragen beantworten müssen.

Wenn beispielsweise Peter Brandt jüngst schreibt, dass die EU als Gestaltungs- und Schutzraum für die Menschen erfahrbar sein muss und nicht als Instrument der neoliberalen Deregulierung, greift er damit eine Erwartungshaltung auf, die vielen potenziellen Wähler*innen der LINKEN entspricht. Allerdings gehört zu solch einem Politikangebot auch, dass wir klar und deutlich beschreiben, welche politischen Interventionsmöglichkeiten wir uns vorstellen, um ein solches Ziel zu erreichen. Letztlich bedeutet das, unsere Haltung zur EU zu klären.

Zur Person
Wulf Gallert ist Vizepräsident des Landtags von Sachsen-Anhalt. Der Politiker der Linkspartei gehört dem Landesparlament seit 1994 an und war Oppositionsführer sowie mehrfach Spitzen- beziehungsweise Ministerpräsidentenkandidat seiner Partei bei Landtagswahlen. Der Text von Wulf Gallert ist auf der Webseite die-zukunft.eu veröffentlicht worden.

Es mag vielleicht banal klingen, aber nichtsdestotrotz ist es bei den Wahlen zum Europaparlament unabdingbar zu klären, welche Rolle oder Perspektive wir einer solchen Institution zuweisen bzw. welche Kompetenzen europäische Institutionen generell gegenüber den Nationalstaaten haben sollten. Wenn wir beispielsweise davon ausgehen, dass europäische Institutionen in der Tendenz eine Bedrohung für »die souveränen Demokratien der Nationalstaaten« sind, müsste es konsequenterweise darum gehen, europäische Institutionen allgemein, und damit auch das EP, in ihrer Bedeutung einzuschränken, deren Kompetenzen und Ressourcen zu reduzieren, so wie es beispielsweise von Mélenchon in Frankreich vertreten wird. Eine Reihe von linken Parteien in Europa vertreten diese Linie.

Allerdings bleibt unter solchen Prämissen auch festzuhalten, dass eine Willensbildung auf europäischer Ebene dann, und das ist tendenziell die jetzige Situation, weitgehend eine Tauschbörse einzelner nationalstaatlicher Interessen auf der Ebene der Regierungschefs bleibt. Was dabei herauskommt, haben wir an vielen Stellen gesehen: die Sonderrolle Großbritanniens, die den Brexit nicht verhindert, sondern eher eingeleitet hat, Dumpingunternehmenssteuern wie in Malta, Zypern oder Irland, fehlende Kontrolle des Kapitalverkehrs in Deutschland und jüngst, in besonderem Maße katastrophal, die gemeinsame Verständigung der Regierungschefs auf ein möglichst unmenschliches Grenzregime. Ein Schutz- und Gestaltungsraum, wie Peter Brandt ihn fordert, kann unmöglich auf diesem Basar der Interessen nationaler Regierungen errichtet werden.

Für die Entwicklung einer wirklichen europäischen Integration werden zurzeit im linken Spektrum zwei grundsätzlich verschiedene Modelle diskutiert. Ein Ansatz geht von der Notwendigkeit einer Neugründung der EU aus, die logisch voraussetzt, dass die jetzt existierende EU aufgelöst werden müsste, übrigens inklusive aller ihrer Institutionen, also auch dem EP. Das andere Modell beschreibt die EU als ein Feld der Auseinandersetzung, auf dem wir mit linken Projekten politischen Druck entwickeln können, um diese zu einem Schutz- und Gestaltungsraum für die Menschen werden zu lassen. Aus meiner Sicht ist es nicht möglich, im Wahlprogramm zum EP beide Positionen nebeneinander stehen zu lassen. Während das Projekt der Transformation an verschiedenen Stellen auch die Stärkung europäischer Kompetenzen gegenüber den Nationalstaaten verlangt, bedingt das Konzept der Neugründung der EU erst einmal die Abschaffung aller europäischer Kompetenzen gegenüber den Nationalstaaten. Anders formuliert: Ich kann im Wahlkampf nicht eine Sozialunion fordern und gleichzeitig jedwede Kompetenz auf dieser Ebene für die EU aufgrund ihrer vermeintlich »neoliberalen Genetik« ablehnen. Zweifellos befindet sich die Fraktion GUE/NGL im EP genau in diesem Spagat. Ein wahlkampffähiges Politikangebot kann man auf dieser Basis aber nicht entwickeln.

Wir müssen uns entscheiden, welche unsere zentrale Botschaft für den Weg zur Umsetzung unserer Ziele auf europäischer Ebene ist. Wollen wir primär die Verteidigung der nationalstaatlichen Souveränität gegen die EU? Wollen wir eine wie auch immer zu bildende neue »linke« EU, oder begreifen wir die existierende EU als unser Feld der politischen Auseinandersetzung? Die Wählerinnen und Wähler haben ein Recht darauf, dass wir ihre Fragen beantworten. Kritik an der bestehenden Situation, bei der wir uns wahrscheinlich sehr schnell einig sein könnten, ist ein notwendiges, aber kein ausreichendes Wahlangebot. Die Beschreibung einer EU wie wir sie uns vorstellen, ohne die Antwort zu geben, wie wir diese erreichen wollen, reicht ebenso wenig aus. Um von den Wählerinnen und Wählern ernstgenommen zu werden, müssen wir uns entscheiden.

Ich plädiere ausdrücklich dafür, ein Angebot der Transformation zu unterbreiten mit dem Ziel, die sozialen Sicherungssysteme und die Daseinsvorsorge zu stärken sowie Umweltschutz und Entmilitarisierung als Kernziele zu definieren. Darüber hinaus gilt es, die EU zu einem Akteur der globalen Entwicklungshilfe umzubauen, deren Ziel es ist, dem globalen Süden eine nachhaltige Entwicklung zu ermöglichen.

Das zentrale Argument aus dem linken Spektrum gegen das Ziel, die existierende EU in diesem Sinne zu transformieren, ist das der relativen Schwäche der LINKEN in Europa und der daraus resultierenden mangelnden Umsetzbarkeit. Darüber hinaus würde die vermeintlich neoliberale Genetik der EU und ihrer undemokratischen Strukturen einem wirklichen Wandel entgegenstehen.

Natürlich sind das schwerwiegende Argumente. Sie relativieren sich jedoch vor dem Hintergrund der politischen Alternativen. Wenn denn die LINKE in Europa nicht stark genug ist, erfolgreich die politische Auseinandersetzung auf EU-Ebene zu führen, wie will sie dann eigentlich erfolgreich für eine Neugründung streiten? Vielmehr besteht doch die objektive Gefahr, dass mit einer eindeutigen Absage an die EU von links deren Erosion und letztlich Zerstörung beschleunigt wird, weil nationalistische und neoliberale Kräfte daran ohnehin arbeiten. Aber die Erwartungshaltung, dass dann aus diesem Trümmerfeld etwas Neues und Besseres entstehen würde, ist, vorsichtig ausgedrückt, unrealistisch und dürfte von dem Gros unserer potentiellen Wählerinnen und Wähler auch nicht als ernsthaftes Angebot verstanden werden.

Kern der Auseinandersetzung innerhalb des linken Spektrums in Europa ist aber eigentlich die Frage des Verhältnisses vom nationalen Sozialstaat und der Möglichkeit, die EU zu einer Sozialunion zu entwickeln. Hier gehen die Einschätzungen, allerdings auch die Interessen deutlich auseinander. Natürlich geht es bei der politischen Debatte um die realen Probleme, unterschiedliche soziale Sicherungssysteme innerhalb der EU so zu harmonisieren, dass die Niveaus nicht nach unter nivelliert werden, sondern eine deutliche Verbesserung für die Mehrheit erreicht werden kann. Daneben besteht jedoch ein (vermeintlicher?) Konflikt zwischen der Vertretung der sozialen Interessen der »eigenen« Bevölkerung oder dieser Interessen auf der Ebene der gesamten EU bzw. von Migrantinnen und Migranten.

Die ständige Betonung, dass z. B. Migranten von innerhalb oder außerhalb der EU die Situation auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt für die Einheimischen verschlechtern (zumindest für Ostdeutschland übrigens weitestgehend eine Phantomdebatte), dass Fremdarbeiter den Deutschen die Arbeitsplätze wegnehmen oder man die eigene Arbeiterklasse vor Migration schützen müsse, belegen ziemlich deutlich diesen Konflikt. Zwar gibt es keinerlei empirische Belege dafür, dass polnische Gastarbeiter die Situation in Großbritannien für die einheimische Bevölkerung auf dem Arbeitsmarkt dort wirklich verschlechtert hätten, nichtsdestotrotz war diese Behauptung zentraler Bestandteil der Brexit-Kampagne, an der sich auch Mitglieder der labour party beteiligt hatten. Die bizarr anmutende Debatte innerhalb der Linkspartei um ost- und südosteuropäische Spargelstecher in Deutschland lief nach ähnlichem Muster ab. Wer diese Form der Arbeitsmigration akzeptiert, will schließlich nur billigen deutschen Spargel kaufen, dessen Grundlage die Ausbeutung ausländischer Saisonarbeiter ist. Interessanterweise kamen die Motive und Interessen der betroffenen Saisonarbeiter in dieser Debatte nicht vor. Das ist auch nicht verwunderlich, wenn der eigene Fokus ausschließlich auf die Interessen der »eigenen« Arbeiterklasse gerichtet ist. Diese nationale Perspektive in der Auseinandersetzung mag attraktiv sein, ist mit linken Grundwerten aber nicht in Einklang zu bringen. Allerdings wird ein solcher Einwand in letzter Zeit innerhalb der LINKEN als moralisierend abgetan. Ein aus meiner Sicht im bestehenden Kulturkampf der neuen Rechten ein fatales Argument. Ich will trotzdem an dieser Stelle auch die ökonomische Interessenlage der »eigenen« Arbeiterklasse bewerten. In der globalisierten Weltwirtschaft, die innerhalb der EU durch den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Menschen und Kapital ihre besondere Ausdrucksform findet, wird jede soziale Errungenschaft auf nationaler Ebene zu einem Kostenfaktor im internationalen Wettbewerb. Entweder man versucht, was konsequent wäre, Zollgrenzen zwischen den Mitgliedsländern zu errichten und letztlich die EU vollständig aufzulösen oder man transportiert den Kampf um soziale Errungenschaften auf die EU. Wenn beispielsweise bei der Red-green alliance davon gesprochen wird, die dänische Arbeiterklasse vor Migration zu schützen, müsste man sie konsequenterweise auch vor Produkten aus dem Ausland schützen.

Die Konsequenz aus dieser Einschätzung ist aber nicht die bedingungslose Befürwortung einer Kompetenzübertragung auf die EU, die in den letzten Jahren an vielen Stellen negative Auswirkungen für einzelne Nationalstaaten hatte. Natürlich gehört das Sparkassenwesen auch weiterhin gegen Restriktion aus der EU verteidigt und die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen im Sinne einer europäischen Marktkonformität muss auch weiterhin von LINKEN auf kommunaler, regionaler und nationalstaatlicher Ebene bekämpft werden. Aber, und das ist die entscheidende Ergänzung, solche Errungenschaften müssen auf der Ebene der EU abgesichert und unterstützt werden, um sie langfristig zu garantieren und auf andere Länder auszuweiten.

Es gibt eine Reihe von Umsetzungsvorschlägen aus dem linken Spektrum für einen solchen Transformationsprozess der EU (z. B. »Europa geht auch solidarisch«, Troost, Bsirske, Schwan, u.a.). Wenn diese im Wahlkampf entschieden vertreten werden, haben wir die Chance, aus der von Gabi Zimmer zu Recht konstatierten Defensive herauszukommen.

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