Gerettet trotz Niederlage

Joachim Löw zeigt ersten Reformwillen, die Belohnung für Deutschlands Fußballer bleibt zunächst aus

  • Frank Hellmann, Paris
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Hinweis für die über die Seine geschipperten Paris-Touristen fehlt nie, wenn die ausladenden Schiffe unter der Pont Marie hindurchfahren. Notre Dame, Louvre und Eiffelturm sind vom Wasser ja längst besichtigt, ehe freundliche Damen darauf hinweisen, dass jetzt der Nachbar geküsst werden könne. Weil unter besagter Marienbrücke alle Wünsche in Erfüllung gehen. Der Frankreich-Aufenthalt war für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft nicht ausgedehnt genug, um in den Ablaufplan noch eine Flussfahrt einzubauen. Aber eine Eingebung schien Joachim Löw in der Stadt der Liebe doch gekommen. Auch ohne Bussi auf dem Boot entschied er sich instinktsicher für einen Jugendstil, der die Wünsche der Fans und Kritiker erfüllte.

»Manchmal sind Aufstellungen falsch in einer Trainerkarriere. Bei mir waren sie häufig richtig, manchmal nicht. Daraus muss man dann Lehren ziehen: Es war klar, wir mussten andere Lösungen, andere Reize, andere Impulse setzen«, dozierte der Bundestrainer im Stade de France, nachdem er ein paar Stunden zuvor die Flucht nach vorne angetreten hatte: mit sechs Spielern im Alter von 22 oder 23 Jahren.

Dass Frankreich als Weltmeister der gnadenlosen Effizienz und individuellen Qualität in Person des Doppeltorschützen Antoine Griezmann letztlich siegte, obwohl »Les Bleus« lange nicht wussten, wie sie diese flinken Deutschen packen sollten, war Löw wie vielen anderen deutschen Beobachtern fast gänzlich unwichtig. »Die Leistung der Mannschaft war großartig. Eine unglaubliche Steigerung. Sie hat ihr Herz in die Hand genommen.« Löws Fazit war sogar fast schon euphorisch: »Wir waren auf Augenhöhe mit der im Moment besten Mannschaft der Welt.«

Der 58-Jährige kritisierte zudem den serbischen Referee Milorad Mazic, der nach einem Zweikampf zwischen Mats Hummels und Blaise Matuidi in der 80. Minute den entscheidenden Elfmeter verhängt hatte. »Mats berührt ihn nicht. Er (Matuidi, Anm. d. Red.) tritt ihm auf den Fuß.« Gemeinhin ist beim Ästheten verpönt, sich über solch profanen Gemeinheiten zu echauffieren, aber die Anmerkung passte in seinen Kontext. Arbeitsthese: Seine Auswahl hatte mehr verdient.

Zumindest eine Stunde lang lieferte die DFB-Elf ihre Jahresbestleistung ab. Beflügelt von einem durch Toni Kroos verwandelten Handelfmeter (14.) legte der taktisch und personell veränderte und verjüngte Trupp eine reife Leistung hin. Drei Sprintertypen in vorderer Reihe - Timo Werner (22 Jahre alt), Leroy Sané (22) und Serge Gnabry (23) - vermittelten dem deutschen Spiel eine neue Geschwindigkeitsstufe.

Allerdings merkten die Arrivierten Mats Hummels, Toni Kroos und der mit einem Minieinsatz abgespeiste Thomas Müller im Nachgang bei aller Lobpreisung spitz an, dass dem Trio auch Tore gut zu Gesicht stünden. Das Binnenklima scheint also weiterhin nicht frei von Animositäten: Ganz grün sind sich die Fraktionen offensichtlich immer noch nicht.

Die Formation mit der Dreier-Achse aus Torhüter Manuel Neuer, Abwehrchef Mats Hummels und Taktgeber Toni Kroos sowie einem Dreierangriff der jungen Wilden weist dennoch den Weg in die Zukunft. Kroos, an dessen Seite erneut Joshua Kimmich eine starke Darbietung als neue Leitfigur bot, fand sogar: »Das war eine der Niederlagen, die am meisten Spaß gemacht hat.« Für das abschließende Nations-League-Duell gegen die Niederlande am 19. November in der Schalker Arena hängt es indes von der zuvor auszuspielenden Begegnung Niederlande gegen Frankreich ab, ob der Weltmeister von 2014 im neuen Wettbewerbsformat überhaupt den Abstieg noch aus eigener Kraft abwenden kann.

Der Bundestrainer muss zudem mit der Hypothek von einem halben Dutzend Niederlagen im Jahr 2018 leben, was noch keinem Vorgänger passiert ist. Aber weil Löw erstmals echten Reformwillen gezeigt hat, darf er bleiben. Seine Einsicht für tiefergreifende Veränderungen kam spät, aber vielleicht nicht zu spät. »Ich finde, dass wir ein Stück Umbruch gesehen haben, der Mut macht für die Zukunft. Was diese junge Mannschaft heute gezeigt hat, darauf lässt sich aufbauen«, sagte Reinhard Grindel, Präsident des Deutschen Fußball-Bunds (DFB) - und Löws Chef.

Nationalmannschaftsdirektor Oliver Bierhoff, der nach dem Nackenschlag in Amsterdam noch auf Tauchstation gegangen war, nun aber in Paris wieder Stellung bezog, erfreute sich an »Energie, Mut und Willen«. Ergo: »Das war ein wichtiges und gutes Zeichen.« Bei der Bewertung dürften nicht allein Ergebnisse zählen, vor allen Dingen wolle man eine Entwicklung erkennen. Verschleißerscheinungen mag Bierhoff im 13. Amtsjahr des Trainers nicht erkennen, was der 50-Jährige auch am Freitag bei der DFB-Präsidiumssitzung vortragen wird: »Jogi will das angehen und weiß, dass das ein Weg und Arbeit ist. Wenn er das Gefühl hat, dass es nicht mehr weitergeht, wäre er der Erste, der zurücktreten würde.«

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.