Wie manipulierbar wir sind!

  • Björn Hayer
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Wirklichkeit ist trügerisch - allen voran in einer Zeit, welche das, was wir darunter verstehen, exakt zu imitieren weiß. Der französische Poststrukturalist Jean Baudrillard geht mit seiner Annahme so weit, dass das Echte längst durch die Simulation des Echten ersetzt werden könne. 1978 geschrieben, nimmt sein Werk zum Thema die Konsequenzen der Epoche digitaler Medien fast schon prophetisch vorweg.

Was für diese Entwicklung als Voraussetzung angesehen werden muss, ist die Bewegung von Bildern und sonstigen Zeichensystemen, der das Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe nun eine ganze Ausstellung widmet. Sie erzählt von der Verbindung von ästhetischer Produktion und maschinellem Antrieb. Man denke etwa an die auch in der Werkschau thematisierte Entstehung des Kinos. Wir schreiben das Jahr 1896, als die Brüder Lumière den Bürgern von Paris die Filmaufnahmen einer auf sie zufahrenden Eisenbahn zeigten. Manche sollen der Legende nach panisch aufgesprungen sein. Was bei heutigen Zuschauern kaum noch Spannung auslöst, war damals Inbegriff einer beginnenden Medienrevolution.

In Arbeiten aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts scheint der Immersionsgrad hingegen um ein Vielfaches höher. Zum Beispiel in Robert Whitmans Installation »Window« (um 1963): Zu sehen ist eine Holzfassade mit einem Fenster. Unmittelbar dahinter befinden sich einige Pflanzen sowie eine Waldlichtung, wo hin und wieder eine nackte Frau durchläuft. Dass sich die Szene jedoch auf einer Leinwand abspielt, sorgt für den gewollten Täuschungseffekt. In der Gesamtkomposition des Werkes nehmen wir nicht die Realität, sondern eine kluge Montage wahr. Noch weiter gehen spätmoderne Exponate. Jeffrey Shaws »The Legible City« (1988) ermöglicht es, auf einem im Boden verankerten Fahrrad durch eine computerisierte und künstliche Stadtprojektion zu fahren. Obwohl der Besucher weiß, dass es sich dabei nicht um die Wirklichkeit handelt, legt er sich automatisch in die Kurven - besser könnte ein Werk gar nicht zeigen, wie manipulierbar wir sind!

Kino und Kinetik, also Kunst einer Scheinbewegung, erweisen sich somit als verwandt, wie weiterhin auch Len Lyes Film »Birth of a Robot« (1936) illustriert. Dem Titel entsprechend wird in märchenhafter Aufmachung die Geburt eines Humanoiden dargestellt. Als Prozess ist dies nur über die bewegten Bilder nachzuvollziehen, die mit puppenartigen Figuren allerdings alles andere als realistisch anmuten. Deutliche Spuren des Surrealismus sind ihnen eingeschrieben. Dieser verfolgte jedoch nicht so sehr die Strategie der Täuschung, sondern vielmehr der Verschiebung unserer Sehgewohnheiten. Luis Buñuels Klassiker »Der andalusische Hund« (1929), ebenfalls zu sehen in Karlsruhe, liefert dafür einen treffenden Beweis. Statt auf die Realität zielt er auf eine Traumwelt.

Als besonders sehenswert erweist sich die Ausstellung bei jenen Werken, die wichtige Aussagen über unsere Gegenwart treffen. So vermittelt Michael Kliers »Der Riese« (1983) auf beklemmende Weise die Auswirkungen der Kontroll- und Disziplinargesellschaft. Da sich sein Film nur aus Aufnahmen von Überwachungskameras an öffentlichen Plätzen zusammensetzt, gewinnt der Zuschauer schnell den Eindruck eines olympischen Auges, das von oben in alle Bereiche unseres Lebens Einblicke erhält. Weiterhin ganz am Fortschrittsdenken unserer Zeit orientiert sind die Fotomontagen von Lynn Hershman Leeson. In ihrer Serie »Phantom Limb« präsentiert sie zumeist weibliche Körper, deren Köpfe durch Bildschirme oder Kameras ersetzt sind. Man könnte sie als ironische Vorstudien des Cyborgs, als Mensch-Maschine-Hybrid, beschreiben.

Wie die Ausstellung in der Residenzstadt dokumentiert, hält die Bewegung seit der klassischen Moderne bis in unsere Tage zielgenau auf unser Inneres Kurs. Die Kunst begleitet diese Evolution sowohl analytisch als auch visionär. Die Kuratoren Peter Weibel und Siegfried Zielinski unternehmen derweil in ihrer Zusammenstellung vor allem den Versuch, einen, wie der Untertitel verrät, »operationalen Kanon« für die »Kunst in Bewegung« zu finden - ein schwieriger Anspruch. Dynamik lässt sich nicht allzu einfach in eine feste Struktur integrieren. Aber vielleicht macht gerade diese Ambition das spannende Paradox aus, das all die Werke eint, nämlich das Leben im Technischen zu begreifen und einzufangen.

Ob der Kanon nun eine Gültigkeit verteidigen kann, mag die Zukunft beantworten. Einen Mehrwert für jeden einzelnen Besucher hat diese Werkschau aus skurrilen Installationen, obskuren Geräuschkulissen und vielen Röhrenfernsehern allemal. Sie schult uns im Sehen und im Erkennen relevanter Zusammenhänge. Sie lässt uns darüber hinaus verstehen, wie es zu unserer heutigen, alle Aspekte unseres Daseins erfassenden digitalen Medienrevolution gekommen ist und wohin sie uns möglicherweise führen wird. Das ZKM beweist damit erneut, dass es eigentlich kein Museum im herkömmlichen Sinne, sondern vielmehr eine Denkfabrik ist, der zu Recht Weltrang eingeräumt wird.

»Kunst in Bewegung. 100 Meisterwerke mit und durch Medien. Ein operationaler Kanon«, bis 10. Februar 2019, ZKM (Zentrum für Kunst und Medien) Lorenzstraße 19, Karlsruhe

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