- Politik
- Hessen wählt
Anspannung vor dem Urnengang
Wahlkämpfer setzen auch in den Abendstunden auf Mobilisierung mit Kneipentouren
Einen Tag vor der mit Spannung erwarteten Landtagswahl werben die Wahlkämpfer der verschiedenen Parteien im Sechs-Millionen-Land zwischen Weser, Rhein und Neckar bis zuletzt auch mit Kneipenbesuchen und Telefonaktionen um jede Stimme. Am späten Samstagnachmittag unterstrich Thorsten Schäfer-Gümbel, SPD-Spitzenkandidat und Herausforderer von Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU), bei einer Abschlusskundgebung seiner Partei vor der Hessischen Staatskanzlei seinen Anspruch auf Übernahme des Chefsessels in einer künftigen Regierung. Nach »fünf Jahren Stillstand der amtierenden schwarz-grünen Koalition« werde ein SPD-geführtes Kabinett eine Bildungsoffensive starten und für bessere Arbeitsbedingungen im öffentlichen Sektor einsetzen, versprach der SPD-Mann. »Bezahlbarer Wohnraum für alle ist die größte Aufgabe unserer Zeit«, rief er unter Beifall von rund über 500 Anhängern.
Schäfer-Gümbel hatte zu seiner Unterstützung bei der Abschlusskundgebung keine Bundesprominenz nach Wiesbaden geholt und schwieg sich zur Lage seiner Partei im Bund aus. Ihm zur Seite stand stattdessen die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer, die auf der anderen Rheinseite in Mainz ein Kabinett aus SPD, Grünen und FDP anführt und diese Konstellation auch als mögliches Modell für Hessen anpries. »Die drei Parteien decken unterschiedliche Interessen im Land ab«, erklärte sie.
Im ehemals »schwarzen Rheinland-Pfalz« ist die SPD seit 1991 führende Regierungspartei, während die SPD im ehemals »roten Hessen« seit 1999 die Oppositionsbänke drückt. Anläufe zur Bildung einer rot-rot-grünen Konstellation waren 2008 am Veto von vier Abweichlern in der damaligen SPD-Fraktion und 2013 an der Präferenz der Grünen für ein Bündnis mit der Bouffier-CDU gescheitert. Ob sich die Hessen-SPD vom negativen Bundestrend abkoppeln und die Grünen auf ihre Seite ziehen kann, bleibt abzuwarten. So verheißen aktuelle Umfragen für CDU und SPD schwere Verluste in Höhe von jeweils bis zehn Prozentpunkten, während die Grünen im 20 Prozent-Bereich liegen und sich mit der SPD ein spannendes Duell um Platz zwei liefern könnten.
Bereits am Freitag hatte die hessische LINKE in der Wiesbadener Fußgängerzone ihre landesweite Abschlusskundgebung mit dem Präsidenten der Europäischen LINKEN Gregor Gysi durchgeführt. Vor zahlreichen Zuhörern auf dem gut gefüllten Mauritiusplatz und unter starkem Medieninteresse unterstrich dabei Spitzenkandidatin Janine Wissler ihre Bereitschaft zu einem Politikwechsel und zur Ablösung der Regierung Bouffier durch eine Zusammenarbeit ihrer Partei mit SPD und Grünen. Allerdings müssten dafür »die Inhalte stimmen«, so Wissler, deren Partei in Umfragen stabil bei acht Prozent liegt. Zuvor waren 2000 Menschen und damit deutlich mehr als erwartet in einem Demonstrationszug durch die Innenstadt gezogen, um gegen einen wahrscheinlichen Einzug der AfD in den Hessischen Landtag zu protestieren. Die Demonstration endete vor dem Wiesbadener Kurhaus, in dem die Rechtspartei ihre Abschlussveranstaltung durchführte.
Unter der grünen Oberfläche
Die Wahlerfolge und Umfragewerte der Grünen sind mehr als ein Hype. Sie sind Ausdruck dafür, dass es heute um die »Ökologie der Existenz« geht.
Für neue Aufregung sorgte am Samstag eine neue Meldung der Tageszeitung »Die Welt«, wonach Hessens Finanzminister Thomas Schäfer (CDU) mit Derivate-Geschäften in den vergangenen Jahren »drei Milliarden Euro verzockt« haben könnte. Kurz vor der Öffnung der Wahllokale ist diese Meldung ein gefundenes Fressen für LINKE und SPD, die diese Frage bereits in den vergangenen Wochen im Landtag zur Sprache gebracht hatten. Das Land müsse Spekulationen mit Steuergeld an den Finanzmärkten beenden, so LINKEN-Landeschef Jan Schalauske. »Dafür hätten wir 100.000 Wohnungen bauen können«, gab Schäfer-Gümbel seinen Anhängern als griffiges Argument im Wahlkampfendspurt mit auf den Weg.
Dass die hessischen Unternehmer auch bei diesem Urnengang ihre traditionellen Parteien CDU und FDP favorisieren, ist dem Vernehmen nach das wenig überraschende Ergebnis einer durch ihren Dachverband VHU vorgenommenen Auswertung der Wahlprogramme von CDU, SPD, Grünen und FDP. Die AfD, deren Programmatik in weiten Teilen ebenfalls einem Wunschzettel der Unternehmerverbände gleicht, wurde dabei offiziell nicht berücksichtigt. Nach Berichten der hessischen Lokalpresse veröffentlichte der VHU allerdings entgegen früherer Pläne die Auswertung nicht bei einer Pressekonferenz, sondern leitete diese nur an die Mitgliedsunternehmen weiter. Ein VHU-Sprecher wollte sich auf »nd«-Anfrage hierzu nicht äußern.
Zeitgleich mit der Landtagswahl können die Wahlberechtigten in Hessen am Sonntag auch über eine vom Landtag vorgeschlagene detaillierte Änderung an der Landesverfassung in 15 Punkten abstimmen. Die Auszählung dieses Wahlgangs werden allerdings erst am Montag Verwaltungsangestellte und Beamte vornehmen. Hessen ist das einzige Land, in dem das Wahlvolk bei Verfassungsänderungen das letzte Wort hat.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.