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Schaffe, schaffe - trotzdem arm
Statistiken zu Armutsrisiko und Arbeitslosigkeit befeuern Debatte über Mindestlohn
Das Timing der Veröffentlichungen hätte schlechter nicht sein können. Diesen Dienstag sind parallel Zahlen zum hohen Armutsrisiko und zur niedrigen Arbeitslosigkeit erschienen. Wie das Bundesamt für Statistik bekannt gegeben hat, war 2017 ein Fünftel der Bevölkerung von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. Zwar ist die Zahl im Vergleich zum Vorjahr um 0,5 Millionen zurückgegangen, doch sind das immer noch 19 Prozent der Bevölkerung. Zudem sind Frauen mit 20,3 Prozent häufiger von Armut bedroht als Männer mit 17,6 Prozent.
Als armutsgefährdet gilt, wer ein Einkommen hat, das unter 60 Prozent des mittleren Einkommens der Bevölkerung liegt. 2017 lag dieser Wert für eine alleinlebende Person bei 1096 Euro im Monat und für eine Familie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren bei 2302 Euro im Monat. Das reicht bei vielen oft nicht aus, um Rechnungen, Miete oder Heizkosten zu bezahlen. Etwas weiter gefasst ist die Definition für eine Bedrohung durch soziale Ausgrenzung. Dafür ist auch relevant, ob genug Geld für einen Fernseher oder auch einen einwöchigen Urlaub vorhanden ist.
»Es ist skandalös, dass trotz des Wirtschaftsbooms in Deutschland 15,5 Millionen Menschen von Armut oder Ausgrenzung bedroht sind«, findet die Präsidentin des Sozialverbands VdK Deutschland, Verena Bentele. Diese Reaktion dürfte allen einleuchten, die sich die zweite Statistik vom Dienstag zu Gemüte führen: Mit 4,9 Prozent liegt die Arbeitslosenquote erstmals seit der Wiedervereinigung unter der Fünf-Prozent-Marke, wie die Agentur für Arbeit in Nürnberg bekannt gegeben hat. Mit 2,204 Millionen ist dies auch der niedrigste Oktober-Wert seit 1990. Im Vergleich zum Vormonat ging die Arbeitslosigkeit um 53 000 Personen zurück, im Vergleich zum Vorjahr um 185 000. Auch wenn damit noch keine Vollbeschäftigung gegeben sei, ist der Chef der Arbeitsagentur, Detlef Scheele, zufrieden: »Es zeigt, dass man Marken erreichen kann, von denen wir vor drei Jahren nicht geträumt haben.«
Über das Doppelpack an Zahlen sind die Wenigsten so glücklich. »Die aktuell guten Arbeitsmarktzahlen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass schon heute der Arbeitsmarkt tief gespalten ist und gravierende Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt vor uns stehen«, gibt Wolfgang Strengmann-Kuhn, Sprecher für Arbeitsmarktpolitik der Grünen, zu bedenken.
Bei den neuen Zahlen handelt es sich nur scheinbar um ein Paradox, wie DGB-Vorstand Annelie Buntenbach im Gespräch mit »nd« erklärt. Schließlich garantiere eine Arbeitsaufnahme allein nicht, aus der Armut herauszukommen. »Der Grund dafür ist ganz einfach: Die Löhne sind oft zu niedrig«, so die DGB-Chefin. Dass die Armut trotz hoher Beschäftigung quasi stagniere, liege auch daran, dass etwa jeder fünfte Beschäftigte in Deutschland im Niedriglohnsektor arbeite. Aus diesem Grund fordern Experten die Eindämmung der Leiharbeit. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands verlangt zudem die »Abschaffung der sachgrundlosen Befristung«, die er im »nd« als »ein Hauptarmutstreiber auf dem Arbeitsmarkt« bezeichnet.
»Wegen der horrenden Mieten besteht in 19 von 20 deutschen Großstädten trotz Arbeit mit Mindestlohn ein ergänzender Anspruch auf Hartz IV-Leistungen«, so Buntenbach. Für sie wäre die Erhöhung des Mindestlohns Teil einer Lösung, damit bestenfalls niemand, der Mindestlohn erhält, zusätzlich Hartz IV beziehen muss.
Die am Dienstag vom Kabinett beschlossene Erhöhung des Mindestlohnes auf 9,19 Euro bezeichnete Schneider als »armutspolitisch irrelevant«. Er hält eine Anhebung auf 12,63 Euro für nötig, wie sie die Bundesregierung auf Anfrage der Linksfraktion selbst berechnet hatte. Auch Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) plädiert seit Monaten für zwölf Euro.
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