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Das Rad als fliegender Teppich

Wer aufs Elektrorad umsattelt, kann den Hohen Atlas auch ohne dick trainierte Waden durchfahren: Mit eingebautem Rückenwind unterwegs in Marokkos Bergen.

  • Stefan Weißenborn
  • Lesedauer: 5 Min.

Sandfarbene Bauten, frisch asphaltierte Straßen, ebene Landschaft, staubige Luft - im Auto lassen wir Marrakesch hinter uns. Am Horizont zeichnet sich schon der Hohe Atlas ab. Nirgendwo in Nordafrika ragen die Gipfel höher auf als hier - fast 4200 Meter. Dort oben wollen wir hin und: radeln.

Noch sitzen wir im Kleinbus. »Die RN9 nach Ouarzazate ist eine der gefährlichsten Straßen Marokkos«, sagt Touristenführer Mustapha Belhimer. Deswegen beginnt die Radtour mit einem Bustransfer. In Telouet, einer Kleinstadt mit verfallender Kasbah, geht es aber ruhiger zu. Nur die Radgruppe sorgt für Aufregung: E-Bikes werden abgeladen, Vorderräder montiert, Sättel justiert, die Fahrfunktionen erläutert. Mohammed Jellou, 27 und seit 2013 diplomierter »Guide des espaces naturel« (offizieller Touristenführer für Berge und Wüstenregionen Marokkos), zeigt uns, wie am Lenker des E-Bikes die Tretunterstützung von »Eco« bis »Turbo« eingestellt wird. »Die Akkus laden wir nachts im Hotel wieder auf«, sagt Mohammed.

Wer noch nie E-Bike gefahren ist, staunt beim Losfahren: Mit einem überraschenden Elektroschub geht es ab in die staubigen, kargen Berge des Hohen Atlas, die selbst auf 1300 Metern immerhin noch mit Kakteen, Walnuss- und jahrhundertealten Wacholderbäumen betupft sind. Hier und da schlängeln sich in den Niederungen grüne Bänder entlang der Bewässerungsrohre, die von großen Regen- und Schmelzwasserreservoirs gespeist werden und die Bevölkerung versorgen - stundenweise und zahlungspflichtig. Ebenso unregelmäßig wie das Wasser fließt mancherorts auch der elektrische Strom.

Wer ein Gebirge kennenlernen will, sollte es erradeln: Die Luft des Hohen Atlas ist rein, trocken und bestens temperiert - für den, der im Herbst oder Frühjahr kommt. Schon in der Nähe der Dörfer duftet es würzig, nach in Tajine-Steintöpfen gegarten Hühnchen- oder Lammgerichten, die in den Restaurants für die Besucher zubereitet werden. Dazu wird gewaschener und abwechselnd gekochter Couscous gereicht. Dörfer wie das pittoreske Angulz mit seinen flachen Lehmbauten kann man eher riechen, als man sie sieht.

Auf dem Rad wird wahr, was Reisende als »authentisch« lieben. In den Bergdörfern sitzen Männer mit pergamentener Gesichtshaut, aufmerksamen Augen und durchgedrücktem Rücken auf ihren Eseln - bewegungslos wie Statuen aus Sandstein. Kinder hingegen jubeln den Radlern zu und nehmen den Sprint gegen den E-Turbo auf, wobei sie am Ende stets den Kürzeren ziehen. Von Ladepritschen der Autos herunter werden Orangen oder Granatäpfel verkauft, ebenso gehäutete Ziegen oder Rindsköpfe.

Die Sonne sinkt, die Berge glühen rot, das Ziel ist erreicht - nach 43,8 Kilometern, 479 Höhenmetern und gut zweieinhalb Stunden reiner Fahrtzeit: Übernachten im Hotel »Riad Ksa Ighnda«, ein Palast mit Palmen und Pool, das in krassem Gegensatz zu den ärmlichen Behausungen ringsum steht. Es ist von US-Touristen auf der Suche nach dem »1001-Nacht-Feeling« bevölkert.

Im Morgengrauen krähen Hahn und Muezzin um die Wette. Es wird aufgesattelt, um schon nach 21 Kilometern lockerer Fahrt mit eingebautem Rückenwind über eine breite, aber erneut kaum befahrene Straße das Highlight dieser E-Bike-Reise zu erreichen: die Festungsstadt Ait-Ben-Haddou, seit 1987 Unesco-Weltkulturerbe.

Wer den Hollywood-Blockbuster »Gladiator« genau anschaut, kann vielleicht die 48 Häuser erkennen, die etwa 500 Jahre alt sind und mit dem Fels verschmolzen zu sein scheinen. Zum ersten Mal diente diese Berbersiedlung Ende der 70er Jahre für »Jesus von Nazareth« als Filmkulisse, was Geld für eine Restaurierung brachte. Damals wohnten kaum noch Menschen in den Ruinen. Seit der Unabhängigkeit Marokkos 1956 wandern die Bewohner in das neu gegründete Dorf auf der anderen Seite des Flusses Asif Mellah ab. Es spricht vieles dafür, dass sich die »Einheimischen« heutzutage nur noch tagsüber für die Touristen in den alten Gemäuern jenseits des Flusses aufhalten. Die Gassen sind flankiert von Souvenirhändlern, Kunsthandwerk, Mineralien, Filmdevotionalien. »Hier leben noch 12 von einst 58 Familien«, behauptet allerdings Mustapha und deutet auf eine alte Frau, die gerade einen Esel durch eine der Gassen führt: »Hier lebt man wie vor 1000 Jahren.« Es bleibt rätselhaft.

Aziz aber schläft nachts in dem neuen Dorf gegenüber, ein junger Mann mit Turban, der mit grünem Tee, Safran und Indigo für die Touristen malt, in alter Geheimschrift: Erst als er das Papier über einen Bunsenbrenner hält, wird es sichtbar. Vier Euro nimmt er für eines seiner postkartengroßen Werke mit Wüsten-, Kamel- oder Kasbah-Motiven.

Nach einer weiteren Transfer-Etappe im Kleinbus über die Passhöhe Col du Tichka (2260 Meter) folgt der sportliche Teil der Tour. E-Biken kann Sport sein. In einem Dorf kommen die Elektroräder wieder vom Hänger. Selbst im Turbogang kommen wir nun ins Schwitzen. Über Serpentinen und Senken geht es höher und höher, ohne Motorkraft hätten wir die 500 Höhenmeter nicht in einer halben Stunde geschafft. Mit dem E-Bike schaffen es auch Untrainierte in die bizarre und wunderschöne Gebirgslandschaft - darin liegt die Magie dieser Reiseform.

Als wir schließlich minutenlang im Gegenlicht der Nachmittagsonne ins Tal von Tighdouine hinabrollen, bekommen wir die volle Belohnung: Orangenplantagen so weit das Auge reicht, gerahmt von nackten Bergrücken, die sich dunkel färben, als die Sonne hinter der Kuppe verschwindet.

Im Dorf Tighdouine ist der Akku des Rades trotz 40 Tageskilometern noch zu einem Drittel voll, wie die Displays am Lenker anzeigen. Auch wir hätten nichts dagegen, weiterzufahren. Doch obwohl auch unsere Waden noch nicht übersäuert sind, wartet hier der Bus, und bald sind die Räder wieder aufgeladen. Als ob es ein Abschied wäre, fährt ein alter Land Rover Defender vor. Das Dach ist voll besetzt mit Kindern. Sie winken, als sich unsere Karawane auf den Rückweg nach Marrakesch macht: Weißgesichter mit ihren Hightech-Rädern im Schlepptau.

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