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Fluchtartiger Aufbruch

Das DFB-Team verschenkt beim Remis gegen Holland den Sieg - ein Spiegelbild für das enttäuschende Jahr 2018

  • Frank Hellmann, Gelsenkirchen
  • Lesedauer: 4 Min.

Mit seiner schwarzen Strickweste und der blau-weiß gestreiften Strickmütze war Toni Kroos hinterher genauso winterfest gekleidet wie die meisten Besucher, die sich aus der Arena auf Schalke auf den Heimweg machten. Nur werden deutsche Nationalspieler mit Polizeieskorte im Mannschaftsbus zum Hotel gefahren, während die gemeine Kundschaft entweder bei der Abreise mit dem Auto im Stau steht oder sich in die Straßenbahnen zwängt. Den Ton des Fußballvolkes traf der Taktgeber trotzdem. »Wir hätten das Erfolgserlebnis ein Stück weit gebraucht. Das ist ärgerlich, sehr ärgerlich«, sagte Kroos. »Wenn es in der 85. Minute 2:0 steht, muss es reichen. Diese zwei Aktionen passen hervorragend zu diesem Jahr. Am Ende stehen wir wieder da.« Ziemlich nackt nämlich.

Die hernach mit der Linie 302 Richtung Hauptbahnhof fahrenden Anhängern debattierten leidenschaftlich über den vorzeitigen Spielabbruch der DFB-Auswahl bei diesem eigenartigen 2:2 gegen die Niederlande. Wenn schon eine 80-minütige Überlegenheit und eine 2:0-Führung nicht zum positiven Jahresabschluss langen, verblassen die vielen ansehnlichen Ansätze. Und so hing neben dem Geruch von Bier und Bratwurst zwischen Haltestellen wie »Ernst-Kuzorra-Platz« und »Schalker Meile« auch das Gefühl von Enttäuschung und Ernüchterung in der Luft.

Zwei Unentschieden und zwei Niederlagen bedeuten in der Nations League die Strafversetzung in die B-Kategorie. »Wir kommen wieder, keine Frage«, prangte auf dem Transparent des hauseigenen Fanclubs. Aber in zwei Jahren muss sich das DFB-Team im wirren Wettbewerbsformat gegen Israel oder Rumänien, Wales oder Serbien aufraffen. Das macht es fast unmöglich, größere Stadien zu füllen, was nicht mal im Klassiker auf Schalke gelungen war, wo Tausende königsblaue Sitze leer blieben. Und den La-Ola-Wellen der zweiten Halbzeit stand bei Abpfiff ein fluchtartiger Aufbruch gegenüber. Den schalen Beigeschmack schien Joachim Löw zunächst nicht mitbekommen zu haben. »Ich glaube nicht, dass so viele Zuschauer enttäuscht nach Hause gegangen sind. Ich habe andere Reaktionen vernommen.« Der Bundestrainer hatte ja auch, »viel mehr Positives als Negatives gesehen«.

Tatsächlich war das Publikum am Anfang sehr dankbar für die Wiedergutmachung mit hohem Tempo und Toren von Timo Werner (9.) und Leroy Sané (19.) - aber am Ende zählt eben auch das Ergebnis. »80 Minuten waren wir klar besser, hatten überhaupt keine Probleme: In den letzten fünf Minuten waren wir ein wenig wacklig«, stellte Löw fest. Man habe den Preis des Umbruchs gezahlt. »Eine junge Mannschaft braucht manchmal eine solche Erfahrung, um es in Zukunft besser zu machen.«

Eine Argumentationskette, die vor allem den Trainer selbst stützte: Seht her, wenn all diese Überflieger und Himmelsstürmer mitmachen, dann bleibt das nicht frei von Risiken und Nebenwirkungen. Damit trug der 58-Jährige seinen Anteil am späten Systemversagen. Bondscoach Ronald Koeman wunderte sich ja selbst, dass ihm sein Gegenüber mit der kompletten Auswechslung der anfangs wieder prächtig harmonierenden Sturmreihe geholfen hatte. »Das ist eine gute Frage für Herrn Löw«, sagte Koeman, doch der Kollege fühlte sich nicht wirklich schuldig. Serge Gnabry sei muskulär am Limit gewesen. Und die Torschützen Werner und Sané? Beide seien weite Wege gegangen, »sie waren ein bisschen müde.«

Dummerweise sorgten weder Marco Reus noch der in seinem 100. Länderspieleinsatz eher unglückliche Jubilar Thomas Müller und erst recht nicht Leon Goretzka für Stabilität. Der Revierjunge Goretzka, der es bislang weder beim FC Bayern noch im Nationalteam den Sprung zum Leistungsträger geschafft hat, leistete sich an alter Wirkungsstätte einen überflüssigen Ballverlust, der den Oranjes das unverhoffte Happyend durch Quincy Promes (85.) und Kapitän Virgil van Dijk (90.) genauso begünstigte wie eine unglückliche Kopfballverlängerung von Joshua Kimmich. Letztlich fehlten Widerstandskraft, aber auch Wettkampfqualität.

Mit nur vier Siegen, drei Unentschieden und sechs Niederlagen bei nur 14 geschossenen Toren geht ein historisch schlechtes Jahr 2018 zu Ende. Für Werner war der letzte Auftritt ein »Spiegelbild des Jahres«. Nur Löw wäre nicht Löw, wenn der lässige Genießer aus Südbaden nicht schon längst die nächsten Sonnenstrahlen ausgemacht hat. Er gehe nach den Spielen gegen Russland und Holland mit einem guten Gefühl in die Winterpause. »Weil ich schon gesehen habe, dass wir viel Potenzial haben.« Das mache ihm Mut für nächstes Jahr. »Mein Gefühl ist einfach, dass wir wieder auf einem sehr guten Weg sind.« Was 2019 in der ganzjährig ausgespielten EM-Qualifikation allerdings erst noch zu beweisen wäre.

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