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Die Straße entscheidet
»Aufstehen« will Druck auf die Herrschaftspolitik ausüben. Bisher schaffen das nur andere.
Die Anfang September gegründete linke Bewegung »Aufstehen« sorgte von Anfang an für Schlagzeilen. Zuletzt waren es allerdings eher negative. Sahra Wagenknecht appelliert in gelber Weste vor dem Brandenburger Tor, es den Gelbwesten in Frankreich gleichzutun - dabei gehöre sie doch zur gehobenen politischen Klasse, lauteten die Kommentare. Zuvor war es um unbezahlte Rechnungen einer Werbefirma gegangen: Ehemals oder immer noch Gleichgesinnte vertraten offenbar unterschiedliche Auffassungen über die Vergütung zum Teil ehrenamtlich erbrachter Leistungen. Inzwischen scheint der Streit behoben, eine versöhnliche gemeinsame Mitteilung wurde verbreitet.
Doch die Internetadresse musste vorübergehend geändert werden, Mailadressen wurden abgeschaltet. Eine junge Bewegung, in der vieles auf Zuruf und provisorisch organisiert wird, muss einen solchen Tiefschlag erst verdauen. Man kann dennoch vermuten, dass er in linken Kreisen, also unter potenziell Verbündeten, teils mit Schadenfreude registriert wurde. Denn von Anfang an war »Aufstehen« von Misstrauen und Schmähungen begleitet, nicht zuletzt wegen seiner populärsten Protagonisten, Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht. SPD, Grüne und vor allem Linkspartei nehmen die Bewegung als Konkurrenz wahr, missgünstige Distanzierungen zeugen davon. Ihre Ursache haben diese allerdings nicht zuerst in gekränkter Eitelkeit oder Einflussneid. Wenn auch die Frage, wieso Wagenknecht ihre Sammlung ohne Rücksprache oder gar Rücksicht auf die Linkspartei vorangetrieben hat, einen Teil der Abneigung erklärt: Entscheidend für das gegenseitige Unverständnis ist eine unterschiedliche Sicht darauf, worum es linker Politik jetzt gehen müsse.
Zu verfolgen ist der Disput seit langem: Beschrieben wird dann eine Globalisierung, die das Nationale zertrümmert, an dessen Reste die Ewiggestrigen sich unverbesserlich klammern. Daraus leiten sich die Bruchstellen ab, an deren Rändern sich Anhänger und Kritiker auch der Sammlungsbewegung »Aufstehen« versammeln. Internationalismus scheint gegen Nationalismus zu stehen, Aufklärung und Multilateralismus gegen autoritär geprägten Populismus. Die Verwirrung der Begriffe sorgt für Verwirrung der Fronten. In einer Debatte über den sogenannten Linkspopulismus, mit dem zuweilen der Name Wagenknecht nur notdürftig übertüncht wird, legen Gegner der Linkspolitikerin ernsthaft nahe, dass Volk und Demokratie unüberbrückbare Gegensätze seien und dass Volksnähe zum Autoritarismus tendiere. Wer im Namen des Volkes argumentiert, wird verdächtigt, nach rechts abzudriften.
In seinem Buch »Aufstehen und wohin geht’s?« spricht Rainer Balcerowiak von einer tiefen Kluft, die in solchen Erörterungen sichtbar werde. »Nicht zwischen den Kontrahenten und Protagonisten, sondern zwischen den Wortführern und den Menschen, über deren Angelegenheiten sie urteilen, kurz: zwischen dem akademischen Überbau und der Masse der Bevölkerung.« Balcerowiak schildert den Konflikt, der vor allem in der Linkspartei ausgetragen wird, als einen zwischen den sich kosmopolitisch verstehenden Gegnern der Nation und den sich ganz und gar nicht nationalistisch verstehenden, aber als solche diffamierten Anhängern einer Strategie zur Bewahrung des Sozialstaats. Der Streit um die kosmopolitische No-Border-Position der Linkspartei, also das Recht jedes Menschen auf Bewegungsfreiheit und Glücksstreben auch außerhalb des eigenen Landes, führt den Dissens letztlich nur auf seinen Gipfel. Grenzenloser, menschenrechtlich begründeter Universalismus gegen kommunitaristischen Kampf um den nationalen Wohlfahrtsstaat: Anhänger des ersten sehen im zweiten einen rechtslastigen ideologischen Fehlgriff, manche hoffen in letzter Konsequenz gar auf einen gesellschaftsverändernden Impuls durch unzufriedene Migrantenmassen.
Wer die Motive hört, die die Menschen zu »Aufstehen« strömen lassen, vernimmt wenig Lust auf solche Debatten. Dort ist es gar keine Frage, dass sich der Hauptkonflikt zwischen »denen da oben« und »uns hier unten« abspielt. Eine Arbeitsgruppe Frieden, eine zum Thema Wohnen und eine dritte zu Aktionen und Veranstaltungen sind alles, worin etwa die Ortsgruppe Marzahn-Hellersdorf in Berlin die Kräfte ihrer 30 bis 40 Mitglieder aufteilt.
Sie dürfen sich als Teil einer ansehnlichen Zahl von Menschen fühlen. 167 000 Unterstützer haben sich im Internet registriert, über 180 Ortsgruppen haben sich organisiert. Doch zur Bewegung reicht es bisher nur unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Ein paar hundert Demonstranten am Hambacher Forst, ein paar Dutzend gegen Berliner Wohnungszustände. Bei seiner Gründung noch mit viel öffentlichem Interesse bedacht, ist »Aufstehen« nun in den Mühen der Ebenen angelangt. Und die Debatten in der Ortsgruppe im Osten Berlins zeigen, wie groß die Gefahr ist, dass sich hier nur weitere Grüppchen im Kosmos ihrer linken Debatten verzetteln.
Wagenknecht hat von Anfang an auf die Macht des Faktischen vertraut. Darauf, dass die Masse an Anhängern die Parteien unter Zugzwang setzen werde, an die sich ihr Impuls wendet. Doch der einzige Ort, wo sich dieser Druck entfalten könnte, ist die Straße. Dort hapert es bisher.
Auch in Marzahn-Hellersdorf wurden erste Treffen veranstaltet, Erfahrungen mit der eigenen Mobilisierungsfähigkeit gesammelt. Der Enthusiasmus richtet sich immer wieder an Sahra Wagenknecht auf. Das muss er auch. Denn wie sich zeigt, ist nicht jeder unter den bereits älteren Herrschaften bereit oder in der Lage, zur Demo zu marschieren, wenn aufgerufen wird. Die jüngste frustrierende Information an die Mitglieder lautet nun gar, dass »Aufstehen« Berlin davor zurückschreckt, die Mitglieder zur Teilnahme an der Luxemburg/Liebknecht-Demo im Januar aufzurufen, weil sich dort zu viele Linksextremisten versammelten. Eine linke Bewegung, die die Demo für Karl und Rosa 100 Jahre nach ihrer Ermordung scheut?
Beinahe ist es, als wollten die Gelbwesten in Frankreich die deutsche Bewegung vorführen. Was da im fernen Westen irrlichtert, ist es, was sich Sahra Wagenknecht und ihre Mitstreiter ausgemalt haben. Für Deutschland. Hier aber wächst der Frust im Verborgenen. Anders als die folgenden, war die erste größere Demonstration am 9. November noch von großem öffentlichen Interesse begleitet worden. An einem Freitagmittag zusammengerufen, kamen nach Auskunft der Veranstalter 1000 Menschen ans Brandenburger Tor in Berlin. Das ist nicht wenig. Aber viel ist es auch nicht, wenn man es mit der potenziellen Gewalt vergleicht, die sich hinter den Mitgliedszahlen verbirgt.
Es scheint der Bewegung am emotionalen Impuls, einem Thema zu fehlen, das in Frankreich die Gelbwesten auf die Straße treibt. Beinahe erinnert »Aufstehen« hier tatsächlich an die von Wagenknecht gern als Vorbild dargestellte Bewegung »La France insoumise« des Linkspolitikers Jean-Luc Mélenchon. Allerdings unfreiwillig. Auch Mélenchon wurde von der Gelbwestenbewegung überrascht; inzwischen sucht er den Schulterschluss. Auch in Deutschland haben andere bisher auf der Straße das Zepter übernommen. Es kam zu mehreren beachtlichen Kundgebungen - an erster Stelle die »Unteilbar«-Demonstration im Oktober mit 240 000 Teilnehmern. Für viele Mitglieder auch von »Aufstehen« unverständlich, hatte Wagenknecht es abgelehnt, den Aufruf zu unterstützen, weil sie die darin niedergelegten Positionen der No-Border-Befürworter nicht teilte.
Zehntausende demonstrierten unter dem Motto »Seebrücke« ihre Solidarität mit den zivilen Seenotrettern im Mittelmeer, Zehntausende protestierten gegen repressive Polizeigesetze in den Bundesländern, 25 000 demonstrierten im April in Berlin gegen steigende Mieten. Im Mai gingen hier 70 000 gegen die AfD auf die Straße, im Juli kam es in München unter dem Motto »ausgehetzt« zur Demonstration von 20 000 Menschen gegen die CSU-Politik. Im September wandten sich in Chemnitz 65 000 unter dem Motto »Wir sind mehr« gegen rechte Aufmärsche und Menschenjagden. 30 000 kamen zur »Welcome-United«-Parade von Flüchtlingen in Hamburg und 50 000 demonstrierten im Oktober für den Erhalt des Hambacher Forsts. »Aufstehen« scheut die Nähe zu Linksextremisten, scheut die Gewalttätigkeit der Franzosen. Da mag ihre Anhängerschaft noch froh sein, dass heute keine Bahnsteigkarten mehr zu kaufen sind, bevor es losgehen kann. Für das Frühjahr 2019 hat die Bewegung nun die bisher ausgebliebenen machtvollen Aktionen angekündigt.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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