- Wirtschaft und Umwelt
- Einkommen in den USA
Schwache Gewerkschaften führen zu niedrigen Löhnen
In den vergangenen vier Jahrzehnten sind die Einkommen eines Großteils der US-Bevölkerung kaum gestiegen
Larry Allen arbeitet seit Jahren als Spezialist für Informationstechnologie in Boston, einer der reichsten Regionen der Vereinigten Staaten. Dennoch steht er jeden Monat vor der Herausforderung, seine Rechnungen zu bezahlen. »Meine jüngste Tochter geht bald aufs College«, sagt Allen, der Mitte fünfzig ist. »Ich kann nichts zurücklegen. Das Geld ist aufgebraucht, sobald es hereinkommt. Gott sei Dank hat meine ältere Tochter endlich einen guten Job bekommen. Ich habe ihre Krankenversicherung und ihre Handyrechnung bezahlt.«
Die Arbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten liegt bei 3,7 Prozent und ist damit auf dem niedrigsten Stand seit 1969. Und wenn das Angebot an Arbeitnehmern gering ist, sollten eigentlich die Löhne steigen. Doch das geschieht in den USA derzeit nicht.
Rund 14 Prozent der amerikanischen Arbeiter haben vergangenes Jahr nicht ihren Job gewechselt und gleichzeitig keine Lohnerhöhungen erhalten, wie das US-Finanzministerium jüngst errechnete, während 1998 die Zahl der Arbeitnehmer, die keine höheren Löhne erhielten, noch bei etwas weniger als zehn Prozent lag. Doch auch bei jenen, die sich über mehr Gehalt freuen konnten, fiel das Plus unter Berücksichtigung der Inflationsrate weitaus geringer als noch in den 1970er Jahren aus.
1978 lag das Medianeinkommen in den USA laut US-Volkszählung bei rund 15 000 US-Dollar, das waren elf Prozent mehr als im Vorjahr. Heute liegt dieser Wert bei 61 000 US-Dollar, was lediglich 1,8 Prozent mehr als 2017 ist. Dabei handelt es sich beim Medianeinkommen um das Einkommen, bei dem die eine Hälfte der Bevölkerung mehr und die andere Hälfte weniger verdient.
Hätte es seit 1978 keine Lohnsteigerungen, sondern nur einen Inflationsausgleich gegeben, dann hätte das Medianeinkommen 2016 57 000 US-Dollar betragen. Bei einem derzeitigen Medianeinkommen von 61 000 US-Dollar waren die realen Einkommenszuwächse für den Großteil der Bevölkerung in den vergangenen vier Jahrzehnten also minimal, während sich die wohlhabendsten Amerikaner über enorme Einkommens- und Vermögenszuwächse freuen konnten. So besitzt das reichste eine Prozent in den USA 40 Prozent des gesamten Vermögens des Landes. Gleichzeitig haben 40 Prozent der Bevölkerung noch nicht einmal 400 US-Dollar auf der hohen Kante, um unvorhergesehene Kosten begleichen zu können, wie die US-Notenbank Fed kürzlich in einer Studie feststellte.
Der renommierte Ökonom Alan Krueger erklärte diesen Sommer auf der Notenbankkonferenz in Jackson Hole, dass die Schwäche der Gewerkschaften ein großer Teil des Problems sei. 1980, so Krueger, waren etwa 25 Prozent der amerikanischen Arbeiter in Gewerkschaften organisiert. Heute seien weniger als elf Prozent in Gewerkschaften. »Kollektivverhandlungen waren ein wirksames Gegengewicht zur monopolisierten Macht des Arbeitgebers«, sagte Krueger und fügte hinzu, dass Unternehmen früher den Mitarbeitern Lohnerhöhungen gaben, um sie von der Organisierung abzuhalten.
Dabei könnte es zu einer Renaissance der Gewerkschaften kommen. Bereits vor sechs Jahren riefen Gewerkschaften und Aktivisten zu einem Kampf für einen Mindestlohn von 15 US-Dollar auf. Sie hatten das Ziel, die unterschiedlichen staatlichen, bundesstaatlichen und lokalen Gesetzgeber davon zu überzeugen, ihre jeweiligen Mindestlöhne mindestens auf diesen Wert anzuheben. Denn derzeit beträgt der föderale Mindestlohn lediglich 7,25 Dollar (6,40 Euro). Viele Staaten und Städte haben zwar höhere Lohnuntergrenzen, andere richten sich aber lediglich nach dem US-weiten Minimum.
Dabei zeigt die Kampagne der Gewerkschaften und Aktivisten erste Erfolge. So haben einige Bundesstaaten wie New York Gesetze verabschiedet, um den Mindestlohn in den kommenden Jahren auf 15 US-Dollar anzuheben. Diese Bemühungen haben dazu geführt, dass 22 Millionen Niedriglohnarbeiter bereits Lohnerhöhungen von insgesamt 68 Milliarden Dollar (60 Milliarden Euro) erhalten haben. »Dank der Bewegung gehören Einkommensungleichheit und sinkende Gehälter heute zu den dringlichsten wirtschaftlichen Fragen unserer Zeit, und ein Mindestlohn von 15 Dollar ist heute ein weithin anerkannter Maßstab«, sagt Yannet Lathrop, Forscherin an der Denkfabrik National Employment Law Project.
Unterdessen haben die meisten Amerikaner, die im Niedriglohnsektor arbeiten, mehrere Jobs, um über die Runden zu kommen.
Racquel Knight aus Massachusetts ist eine von ihnen. Die 27-jährige Mi-grantin aus Jamaika, die kürzlich US-Bürgerin wurde, hat drei Jobs als Betreuerin in einer Altenpflegeeinrichtung, einem Schutzraum für Familien und einem Frauenhaus. Dabei verdient sie bis zu 18 US-Dollar pro Stunde. Doch fordern die Jobs einen hohen Tribut von ihr. Sie arbeitet häufig von morgens bis abends in dem einen Job, schläft dann kurz zu Hause, bevor sie zu einem anderen Job geht, der um Mitternacht beginnt und am nächsten Morgen endet. Manchmal muss sie dann noch zu ihrem dritten Job gehen. Weil sie keinen Führerschein hat und sich kein Auto leisten kann, gibt Racquel Knight ihr weniges Geld für Taxi-Fahrten aus oder muss mehr als drei Kilometer zwischen den Arbeitsplätzen laufen, eine schwierige Aufgabe in den kalten Wintermonaten. »Ich muss tun, was ich tun muss«, sagt sie.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.