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Ein romantischer Anachronismus
Der renommierte Handballclub Leipzig könnte nur zwei Jahre nach der Insolvenz schon wieder in die 2. Liga aufsteigen. Dabei setzt er fast ausnahmslos auf eigene junge Talente
Im Besprechungszimmer des Handballclubs Leipzigs stehen Dutzende glänzende Pokale. Doch diese Trophäen des HCL sind in dem funktionalen Raum im Obergeschoss der Sporthalle Brüderstraße nicht in Vitrinen aufgestellt, sondern überall dort, wo gerade Platz ist. Auf Fensterbrettern, einem Schrank oder beiläufig zwischen Druckerpapier, Taktiktafel und Getränkekisten. Es hat sich einfach noch kein besserer Platz für sie gefunden. Einige im Verein wollen das Tafelsilber von einst sogar versteigern, um den Erlös in neue Erfolge zu stecken. Auf jeden Fall illustriert der Raum, dass hier mehr an der Zukunft gearbeitet wird, als alten Erfolgen nachgetrauert.
Nun ist der HCL kein Klub, der seine Geschichte verkauft oder keinen Wert auf seine Tradition im Frauenhandball legt. Die wichtigsten Trophäen stehen dann doch im Foyer und zeugen von vergangenen Erfolgen: sechs Meistertitel und sieben Pokalsiege von 1998 bis 2016. Doch vor anderthalb Jahren brach das einstige Erfolgssystem zusammen.
Im Juli 2017 hatte die ausgegliederte insolvente Bundesliga GmbH etwa 1,5 Millionen Euro Schulden angehäuft. Auch der Gesamtverein, den die Profi-GmbH anders als üblich als Bürgen eingespannt hatte, verzeichnete plötzlich eine sechsstellige Schuldenlast. Damit es überhaupt weitergehen konnte mit Frauenhandball in Leipzig, musste der neue Präsident Rainer Hennig innerhalb weniger Wochen zwölf große Gläubiger sowie alle Trainer überzeugen, auf das ausstehende Geld zu verzichten. Hennig blieb gar keine Wahl. Er musste den Gläubigern charmant, aber bestimmt die Pistole auf die Brust setzen: »Wenn nicht verzichtet wird, gibt es den traditionsreichen HC Leipzig mit hervorragender Nachwuchsarbeit und Nationalspielerinnen nicht mehr.« Hennig, der mit dem Vizepräsidenten Jochen Holz und Trainer Jacob Dietrich im Pokalabstellraum zum Gespräch mit dem »nd« Platz genommen hat, lächelt schlau und sagt: »Machen wir uns nichts vor: Mit so einer Schlagzeile wollte keiner in die Presse kommen.«
Doch Hennig und seine Mitstreiter entschuldeten den Klub nicht nur auf diese Weise, sie mussten neues Geld eintreiben - für den Neustart zwei Etagen tiefer in der 3. Liga. Keine leichte Aufgabe, nachdem Ex-Manager Kay-Sven Hähner den Klub in den Ruin geführt hatte, weil er mehr ausgab, als ihm zur Verfügung stand, und er auf Partner gesetzt hatte, die ihre Zusagen nicht einhielten. Die Abwicklung der GmbH wird laut Insolvenzverwalter Alexander Jacobi erst in zwei Jahren abgeschlossen sein. Gerade prüfen Krankenkassen und Finanzamt mögliche Ansprüche. Nicht ausgeschlossen, dass Hähner - laut Jacobi selbst privat insolvent - auch persönlich haften muss. Der entschuldete Verein hat damit nichts mehr zu tun. Vielmehr mussten Hennig & Co. seit Sommer 2017 neues Vertrauen aufbauen und eine neue Euphorie entfachen. Doch einem wie Hennig glaubten die Geldgeber. Er sammelte nach dem Crash neues Startkapital in Höhe von 13 000 Euro ein. Dazu kamen 70 000 Euro von Sponsoren.
Als Interimsmanager ist der 71-Jährige darauf spezialisiert, Unternehmen durch Krisen zu führen. Hennig hat schon in vielen Branchen gearbeitet: Metallverarbeitung, Landschaftsbau, Autoindustrie, Großhandel, Verlagswesen. Nun also Handball. In sieben Jahren als Chef des HCL-Förderkreises hatte er genug Herzblut entwickelt, um in den schwersten Wochen des Klubs Verantwortung zu übernehmen. »Es durfte nicht sein, dass durch Managementfehler der Bundesliga GmbH der gesamte Nachwuchsbereich leidet«, sagt Hennig. Falls der Klub nicht bis 2021 zumindest in die 2. Liga zurückkehrt, würde es das Aus des Leipziger Nachwuchsleistungszentrums bedeuten. Das hat der Deutsche Handball-Bund schon angekündigt.
Hennig muss die Geschichte der ersten Wochen des »neuen HCL« derzeit häufiger erzählen, denn der Verein, der am Boden lag, hat sich wieder aufgerappelt. In seinem zweiten Drittligajahr schloss er die Hinrunde ohne Punktverlust mit 22:0 Zählern auf Platz eins ab. »Das ist schon eine Hausnummer«, sagt Hennig stolz. Trainer Jacob Dietrich bremst noch etwas. Doch auch er weiß, was seine Spielführerin Jaqueline Hummel ein paar Tage später nach dem Training offen ausspricht: »Wir können uns eigentlich nur noch selbst schlagen.«
Der Kampf um Zuschauer
Zum Glück für den HCL hat er einige der talentiertesten Nachwuchsspielerinnen des Landes in seinen Reihen. 2017 war die B-Jugend unter Dietrichs Führung Deutscher Meister geworden. Ein paar Wochen später mussten sich die 16-Jährigen plötzlich als erste Mannschaft in der 3. Liga durchbeißen. Das Team hatte einen Altersschnitt von 16,4 Jahren. »Wir wussten, da sind sehr interessante Mädels dabei. Schon deswegen hat es sich gelohnt weiterzumachen. Wir wollten versuchen, sie hier zu halten und weiterzuentwickeln«, sagt Vizepräsident Jochen Holz, lange Lehrer am Sportgymnasium und auch Co-Trainer des Profiteams.
Auch jetzt, da etwas erfahrenere Spielerinnen wie Laura Majer, Christin Conrad und die Zwillingsschwestern Jaqueline und Stefanie Hummel dazugekommen sind, stellen die Leipzigerinnen mit durchschnittlich 19 Jahren noch das jüngste Team der Liga. »Wir haben nur Spielerinnen dazugeholt, die wissen, worum es geht und wie es bei uns läuft«, betont Holz. Der 66-Jährige ist längst Pensionär, geht aber beim HCL wie Hennig im Grunde einem Vollzeitjob nach - ehrenamtlich. Zwei betagte Enthusiasten, die es noch mal wissen wollen, mit großem Elan bei der Sache sind und das noch junge Erfolgskonstrukt etwa durch einen Wirtschaftsbeirat peu à peu professioneller aufstellen.
Die neuen »Macher« legten Wert darauf, bis auf die niederländische Nachwuchs-Nationaltorhüterin Ellen Janssen, nur Spielerinnen zu verpflichten, die schon mal beim HCL waren. Außer Janssen besteht also das gesamte Team aus Eigengewächsen - im Profisport eigentlich ein romantischer Anachronismus, doch beim HCL sorgt das für Zusammenhalt und Identifikation. Innerhalb des Teams und mit den Fans.
Letztere kommen immer zahlreicher, um dem HCL beim Aufstehen zuzuschauen. Beim Derby gegen Chemnitz war die »Brüderhölle« mit 860 Zuschauern fast ausverkauft. Beim letzten Heimspiel vor dem Jahreswechsel gegen Kleenheim, als zeitgleich der Männer-Bundesligist DHfK spielte, kamen immer noch 600 Fans. Beide großen Handballklubs der Stadt schätzen einander, unterhalten freundschaftliche Kontakte. »Wirtschaftlich«, räumt Vereinsvorstand Hennig aber ein, sei es »nicht so berauschend«, dass mit DHfK ein weiterer Handballklub Sponsoren bindet. Wesentlicher sei aber der Kampf um die Zuschauer. »Entweder man hat für RB Leipzig, DHfK oder uns das Eintrittsgeld. Für alle drei wird es knapp«, sagt Hennig.
Dass Dietrich jetzt Chefcoach ist und nicht mehr die langjährige Drittligatrainerin Marion Mendel, war eine Entscheidung der sportlichen Zielstellung: »Wir waren der Auffassung, dass wir den Aufstieg eher mit ihm schaffen«, erklärt Holz den Trainerwechsel zum Saisonstart, auch wenn Dietrich als sächsischer Landestrainer noch einem zweiten Fulltime-Job nachgeht. Der 31-jährige Weimarer legt Wert auf eine gallige Abwehr, »in der wir uns füreinander aufopfern«, rasante Gegenstöße mit vielen einfachen Toren und einen variablen Angriff. Alles keine Geheimnisse des Handballs, doch ein klarer Kurs, der zum Erfolg führt, wird er so akribisch und motiviert umgesetzt wie Dietrich und sein Team das tun.
100 000 Euro fehlen noch
Zusammen haben sie wieder eine Gewinnermentalität entwickelt. »Jacob bringt frischen Wind rein, stellt uns taktisch sehr gut ein«, lobt Kapitän Jaqueline Hummel. Dietrich sitzt nachts oft noch stundenlang vor dem Rechner, beobachtet im Videostudium die Gegner und berät sich am nächsten Tag mit den Spielerinnen. »Weil er nicht der erfahrenste Trainer ist, nimmt er uns mit ins Boot«, sagt Hummel. Dietrich habe immer ein offenes Ohr für Hinweise aus der Mannschaft. Das schweißt zusammen.
Nun steht der HCL vor der ersten großen Wegmarke seit dem Neuanfang. Um in der 2. Liga auch wirtschaftlich mithalten zu können, fehlen noch knapp 100 000 Euro. Insgesamt gut 300 000 Euro seien nötig, um im Bundesliga-Unterhaus antreten zu können, sagt Hennig. Doch der Krisenmanager strahlt reichlich Optimismus aus, dass er das Geld bis zum Sommer zusammenbekommt. Über allem steht freilich die Maßgabe, sich nicht noch einmal zu übernehmen. Gleichwohl weiß der Klub, dass seine Talente begehrt sind und er sportlich, finanziell und strukturell ein Umfeld bieten muss, das ihn weiter interessant erhält.
Viele Akteurinnen machen im Sommer ihr Abitur. »Es wird eine Kernaufgabe sein, die Mannschaft zusammenzuhalten«, sagt Trainer Dietrich. »Unsere Spielerinnen sind unter Beobachtung von Erst- und Zweitligisten.« Alle Spielerinnen über 18 Jahren wurden mit Verträgen ausgestattet, die jedoch nur ein Jahr laufen. »Damit haben wir ihnen signalisiert: Wir wollen mit euch die Zukunft gestalten«, sagt Hennig. Ob es gelingt, ist offen. Jaqueline Hummel möchte sich wie viele Mitspielerinnen noch nicht festlegen.
Wenn es gelänge, einen Großteil vom neuen Leipziger Weg zu überzeugen, ist es laut Holz »sportlich nicht illusorisch, in zwei, maximal drei Jahren in die 1. Liga aufzusteigen. Was dafür finanziell notwendig ist, ist das Problem.« Beim HCL gehen sie erst mal Schritt für Schritt. Der nächste lautet: Meisterschaft in der 3. Liga. Dann ein Erfolg in der Relegation, um den Aufstieg klarzumachen - nur drei der vier Drittligameister steigen auf. Dafür gäbe es auch einen Pokal. Und der erste des neuen HCL bekäme sicher einen Ehrenplatz.
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