- Sonntagsschuss
- Stimmung in Englands Stadien
Es ist Saure-Tannenzapfen-Zeit
Die These, dass die Stimmung in Englands Stadien authentischer sei als hierzulande, kann Christoph Ruf nur belächeln
Es gibt bekanntlich nicht allzu viele Dinge, über die sich Fans und Offizielle im deutschen Fußball einig sind. Dass die Stimmung hierzulande passabel bis gut sei, gehört allerdings zu den wenigen Behauptungen, die aus beiden Lagern immer wieder zu hören sind. In der aktuellen Ausgabe der »Zeit« vertritt nun der Autor Jörg Kramer die entgegengesetzte These. Kramer hat über Weihnachten in Ermangelung von Bundesligafußball in die Premier League hineingelugt und war nicht nur vom dortigen Tempo beeindruckt, sondern eben auch von der Atmosphäre. Die empfand er offenbar als mitreißend.
Während dort die Fans die Wellenbewegungen des Spiels mitmachten, herrsche in Deutschland ein von den Ultras angestimmter monotoner Dauersingsang, der das Geschehen auf dem Rasen in einen Klangteppich einlulle. Die Ultras lieferten also den optimalen Soundtrack zur behäbigen Langeweile auf dem Rasen.
Was mich an diesen Beobachtungen wundert, ist weniger die Beschreibung der Stimmung in Deutschland als der englischen. Dass in der dortigen Premier League nennenswerte Wallungen auf den Rängen entstehen, habe ich in den letzten Jahren selbst nie erlebt. Und auch die Freunde und Kumpel, die immer wieder zum fußballerischen Sightseeing auf die Insel reisen, berichten viel von netten Gesprächen mit Fans, von tollen Stadien und von der typisch britischen Fußballatmosphäre, die es ja tatsächlich immer noch gibt. In den Kneipen und Wohnvierteln rund um die Stadien. Aber in den Stadien? Traurige Blicke, wegwerfende Handbewegungen überall im Freundeskreis.
Es gibt also wohl nur zwei Deutungen für das Mysterium. Die eine: dass die englischen Fans sich, wenn ein Spiel mal so richtig mitreißend ist, dann doch aus ihrer Sitzplatzlethargie herauskatapultieren lassen. Oder es eine andere, viel trivialere: dass die Stadionatmosphäre vor dem Fernseher offenbar so ganz anders wirkt als in den Stadien selbst. Denn warum sollten ausgerechnet die Tontechniker nicht auch einen draufsetzen wollen, wenn es gilt, die Premier League als den heißesten Scheiß seit Erfindung des Leders zu vermarkten?
Zurück nach Deutschland, wo Kramers Beobachtungen von vielen außerhalb der Ultraszene geteilt werden. Dass früher mehr Spontaneität war, weniger Inszenierung, weniger Nabelschau und dafür mehr Bezug zum Spielgeschehen, finden ja auch viele ältere Fußballfans, die seit Jahrzehnten eine Dauerkarte haben und die Ultraszene ambivalent sehen. Fairerweise geben viele von ihnen allerdings auch zu, dass sie selbst schon lange aus dem Alter heraus sind, in dem sie auch fernab von Torerfolgen der eigenen Mannschaft in höheren Dezibelzahlen unterwegs waren. Ob die Stimmung »gut« ist, die die Ultras inszenieren, mag also - wie es Jörg Kramer tut - zurecht angezweifelt werden. Dass sie, um mal ein besonders gewagtes Beispiel zu bringen, aber selbst in Hannover oder Hoffenheim besser ist als bei Arsenal London, stimmt genauso wie die Tatsache, dass ohne die Ultras in den meisten Stadien auch hierzulande eine Stimmung wie bei Arsenal herrschen würde.
Mit dieser postweihnachtlich-harmonischen Erkenntnis könnte man es bewenden lassen, wenn die Saure-Tannenzapfen-Zeit nicht mal wieder von Provinzpolitikern genutzt worden wäre, um sich an Fußballfans abzuarbeiten. Zwei von ihnen - einer namens Schünemann von der CDU und einer namens Watermann von der SPD - haben via »Bild« die Idee ventiliert, man könne in einem Pilotversuch testen, ob man nicht künftig generell mit videobasierter Gesichtserkennung arbeiten sollte. Über den Einsatz der Atombombe wird offenbar zunächst nur in Geheimdienstkreisen debattiert.
Natürlich geht es wieder um das Kapitalverbrechen Pyrotechnik. Auch im neuen Jahr dackelt die SPD kreuzbrav der Union hinterher, um sich bei der nächsten Wahl zu wundern, warum sie sich wieder ein Stück mehr der Fünf-Prozent-Hürde angenähert hat. Auch im neuen Jahr sehen Politiker keinen Widerspruch darin, sich über gehackte Daten aufzuregen, die sie selbst betreffen, selbst aber den Großen Bruder ins Stadion zu delegieren. So lange Politiker meinen, ihre Versuchsballons in Sachen law and order in immer wahnwitzigerem Tempo an Fußballfans abarbeiten zu müssen, gebühren den Ultras Sympathie und Solidarität. Selbst wenn sie ausgerechnet in den 90 Minuten, auf die es ankommt, so sind, wie sie sonst nie sind: langweilig.
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