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Biedermeierei als Gerichtsinstanz
Christoph Ruf kritisiert die Justiz für ihre Urteile gegen Klimaaktivisten
Der Spruch »Freiheit stirbt mit Sicherheit« könnte nicht besser gewählt sein, um die deutsche Gegenwart zu beschreiben. Unter Hinweis auf »versicherungstechnische Gründe« werden von der Grundschule bis zum Seniorenheim Verbote und Verhaltensbefehle ausgesprochen. Zum Ideal eines jederzeit überwachten 24/7-Vollkasko-Lebens passt die Rechtsprechung der jüngsten Vergangenheit. Ist es allen Ernstes verhältnismäßig, wenn Fußball-Ultras zu 13 Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt werden, weil sie Pyrotechnik gezündet haben? Kann man es wirklich glauben, dass Aktivisten der Letzten Generation wiederholt zu Haftstrafen ohne Bewährung verurteilt wurden, weil sie eine Straße blockiert haben? Vor einigen Tagen hat die Münchner Staatsanwaltschaft sie sogar wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung angeklagt.
Interessant ist das in mehrerlei Hinsicht. Primär, weil manche Juristen gerade jedes Maß zu verlieren scheinen, wenn sie es mit Menschen ohne Lobby zu tun haben. Zweitens, weil es kaum Proteste gegen solche Urteile gibt. Und drittens, weil unsere politische Kultur schon dermaßen fragmentiert ist, dass sich Konservative freuen, wenn Linke Opfer einer entfesselten Justiz werden.
Christoph Ruf ist freier Autor und beobachtet in seiner wöchentlichen nd-Kolumne »Platzverhältnisse« politische und sportliche Begebenheiten.
Das dürften Politik und Justiz mit Freuden beobachten. Abweichendes Verhalten scheint diese Gesellschaft per se nicht mehr akzeptieren zu wollen. Zumindest nicht, wenn es außerhalb der Biotope stattfindet, die sie dafür vorgesehen hat. Protest gegen die Klimakatastrophe? Bleibt zwar in jedem Fall folgenlos, wird aber gehätschelt, wenn er den Weg von Luisa Neubauer geht, der über die Grünen und die Talkshows zur Prominenz führte. Wer, wie die Letzte Generation, meint, dass man nicht mehr fünf Koalitionsverhandlungen und 50 Kompromisse abwarten kann, bis das angegangen wird, was die Wissenschaft lange anmahnt, wird kriminalisiert. Als »kriminelle Vereinigung« werden auch die Mafia oder ein Pädophilenring geführt.
Podcast: Louisa Theresa Braun begleitet die letzte größere Aktion der Letzten Generation – den Protest gegen den LNG-Gipfel in Berlin –, dokumentiert Polizeigewalt sowie krumme Deals beim Gerichtsprozess gegen eine Aktivistin.
Nun also Menschen, die sich auf Straßen kleben. Solche Urteile haben natürlich eine politische Funktion: Sie sollen einschüchtern. Und sie haben politische Folgen. Es ist noch nicht ewig her, da galt in der Bundesrepublik der alte Paragraf 218. Frauen, die abgetrieben hatten, drohte Gefängnis bis zu fünf Jahren. Mutmaßlich würde er noch heute gelten, wenn nicht viele tausend mutige Frauen dagegen aufbegehrt hätten. Nicht mit Unterschriftensammlungen, sondern mit zivilem Ungehorsam und dem massenhaften Bekenntnis, selbst abgetrieben zu haben. Aus der Sicht vieler heutiger Richterinnen und Richter war das besagte »Stern«-Cover vom Sommer 1971 wahrscheinlich kein politischer Akt, sondern die Selbstbezichtigung, eine Straftat begangen zu haben.
Mir scheint, dass aus den Universitäten viele Leute in die Juristerei gespült wurden, die schnurgerade Lebensläufe haben und allesamt aus wohlbehütetem Hause kommen. Menschen, die beim Smalltalk nicht einmal unsympathisch sein müssen, die aber nachts um drei an einem Feldweg stehenbleiben würden, wenn dort eine Ampel rot leuchtet. Wenn Biedermeierei aber zur Leitschnur von Gerichtsurteilen werden, droht eine uniforme Gesellschaft, die mangels neuer Impulse an sich selbst erstickt.
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