Aus Schlamm geboren

Vor 40 Jahren wurde Marzahn zum eigenständigen Berliner Stadtbezirk.

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 5 Min.

Jürgen Wolf kam nach Berlin-Marzahn zu einer Zeit, als die Bewohner dort scharenweise Reißaus nahmen. 1993 gewann er die vom Bezirk gestartete Ausschreibung für den Betrieb der wieder errichteten Bockwindmühle im alten Dorfkern. Er selbst war im Aufbaufieber, rundherum fingen die Plattenbauten an, sich zu leeren. Was zu DDR-Zeiten noch eine Art Hauptgewinn war, eine moderne Wohnung mit Fernwärme, fließend Warmwasser, Müllschlucker und Aufzug, galt nun für viele als monotone Trabantenstadt ohne Lebensqualität. Nach der Wende verloren viele ihre Arbeit. Es gab sogar Forderungen von Politikern aus dem Westen, die Großsiedlung abzureißen. Nach diesen Vorstellungen hätte wieder Getreide rund um den historischen Dorfkern auf weiten Feldern wogen sollen. Bis 2010 hatte ein Viertel der ursprünglichen Bewohner Marzahn verlassen.

»Ich habe den Niedergang erlebt und versucht, ihn als Chance zu begreifen«, sagt Wolf. Der heute 55-Jährige hat die Werbetrommel gerührt, die Mühle weit über die Bezirksgrenzen bekannt gemacht. »Die Mühle dreht sich nicht mit dem Wind von gestern«, so sein Motto. Es ging ja schließlich darum, eine Tradition aufrechtzuerhalten. Einerseits die seiner Familie - er kommt aus einer alten Müllerfamilie. Andererseits die Marzahns. Obwohl die Bockwindmühle ein Neubau am Standort ist, gab es in dem Dorf seit 1815 eine. Die letzte originale Mühle war allerdings 1978 gesprengt worden - sie stand der Großsiedlung im Weg. Damals stand auch das ganze Dorf zur Disposition - konnte so ein Relikt wirklich in Sichtweite einer Allee der Kosmonauten stehen bleiben?

Doch der Wind drehte sich erstaunlich schnell. Bereits 1982 fasste der Ost-Berliner Magistrat den Beschluss, dass wieder eine Mühle hermusste. Eigentlich hätte ein ausgedientes Exemplar aus einem Dorf versetzt werden sollen. »Aber niemand wollte seine Mühle in die Hauptstadt geben, wohin sowieso alles ging«, berichtet Wolf. Nun feiert er 25-jähriges Marzahn-Jubiläum. Er hat seinen Platz gefunden, ist er sich sicher.

Bereits 1978, mit 25 Jahren, verschlug es Dagmar Pohle, die heutige Bezirksbürgermeisterin von Marzahn-Hellersdorf, dorthin, was am 5. Januar 1979 Marzahn wurde. Damals entstand der neunte Stadtbezirk Ost-Berlins durch die Teilung von Lichtenberg. Wenn es nach ihrem Mann gegangen wäre, hätten die beiden Friedrichshain nicht verlassen. Er wollte nicht auf einer Baustelle leben. »Wir hatten dort eine Ein-Zimmer-Wohnung im Hinterhof«, erklärt Pohle immer noch etwas fassungslos. »Natürlich ist er schließlich mit mir in die Zwei-Zimmer-Wohnung nach Marzahn gezogen.« Keine Briketts und keine Asche mehr schleppen, keine zugigen Fenster, keine dunklen Hinterhöfe mehr, das war Verlockung genug.

Nein, Gummistiefel habe sie damals nicht gebraucht. »Als ich dorthin gezogen bin, waren die Straßen schon fertig und ich hatte die S-Bahn vor der Haustür«, sagt die LINKE-Politikerin. Rund 6000 Wohnungen waren zu jenem Zeitpunkt fertiggestellt, vor allem westlich des S-Bahnhofs Springpfuhl, wo Pohle nun lebte. Der Startschuss zum Bau war im Juli 1977 erfolgt.

Obwohl das »nd« als damaliges Zentralorgan der SED recht eifrig über den Wohnungsbau und die Hauptstadt der DDR berichtete - die Gründung des neuen Stadtbezirks war kein Thema. Auf einmal war er in der Berichterstattung einfach da. Das hing wohl mit dem Vier-Mächte-Status der Stadt zusammen. Änderungen waren im Kalten Krieg heikel. Doch die Alliierten betrachteten das als innere Angelegenheit.

Es waren vor allem die Wettergötter, die zur Bezirksgründung übel mitspielten. Im Januar 1979 schneite es unaufhörlich, es war bitterkalt. Ein Problem auch bei der Montage von Plattenbauten. Denn Fundamente mussten trotzdem gegossen, Gräben für Anschlüsse gezogen, Straßen und Gleise für die Tram gebaut werden. Man war im Verzug. Am Ende klappte es, bis zur Wende 1989/90 entstanden in Marzahn und dem 1986 als separatem Bezirk abgetrennten Hellersdorf 100.000 Neubauwohnungen.

Pohle, die in den 1980er Jahren Mitarbeiterin der Marzahner SED-Kreisleitung war, empfindet es als späte Genugtuung, dass der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) bei seiner Laudatio zum Jubiläum die »große Kraftanstrengung« lobt, so viele Wohnungen innerhalb von nur 15 Jahren zu errichten.

Spannend und hart seien die Jahre nach der Wende gewesen, berichtet Pohle, die für die PDS im Abgeordnetenhaus saß, schließlich Stadträtin im 2001 fusionierten Großbezirk Marzahn-Hellersdorf wurde und 2006 erstmals Bezirksbürgermeisterin. Knapp 5000 Wohnungen wurden im Rahmen des Stadtumbaus Ost bis 2009 abgerissen. Inzwischen wird wieder neu gebaut, bis 2026 sollen in dem 270.000-Einwohner-Bezirk 11.000 neue Wohnungen entstehen.

Allein 1000 Wohnungen sind auf dem Gut Hellersdorf geplant. Pohle setzte durch, dass nur 30 Prozent davon Sozialwohnungen werden, statt der üblichen Hälfte bei landeseigenen Projekten. Es sind die »relativ prekären Verhältnisse« der Bezirksbevölkerung, die ihr Sorgen machen. Viele Marzahner sind arm trotz Arbeit, in der Folge wachsen 40 Prozent aller Kinder in Haushalten von Transferleistungsempfängern auf.

Es ist dieses Abgehängtsein von großen Teilen der Bezirksbevölkerung, das Pohle als Hauptgrund für die hohen Wahlergebnisse der AfD verantwortlich macht. Die Rechten wurden zweitstärkste Kraft im Bezirk bei der Abgeordnetenhauswahl 2016 und der Bundestagswahl 2017. »Ich bin ehrlich gesagt immer wieder entsetzt, dass die Menschen sich nicht über die Ursachen ihrer Lage informieren, sondern sich mit einfachen Antworten zufriedengeben«, sagt Pohle. »Wir tun, was wir können, aber das kann man mit den Mitteln der Kommunalpolitik nicht kompensieren«, erklärt die Bürgermeisterin. »Wir leben nun mal im Kapitalismus«, sagt sie etwas resigniert.

»Wir müssen die Sachen auf die Reihe kriegen.« Das könnte helfen gegen die AfD, glaubt Stefan Ziller. Der 37-jährige Politiker sitzt für die Grünen im Abgeordnetenhaus und ist im Bezirk aufgewachsen. Er hält die Ergebnisse der Rechten für einen »Hilferuf« der Abgehängten. Er beobachtet eine besondere Mentalität in den großen Plattenbauvierteln der Stadt, auch außerhalb seines Bezirks. »Die Leute sind es aus DDR-Zeiten gewohnt, eine Eingabe zu schreiben, wenn sie mit etwas unzufrieden sind«, berichtet er. Das beobachte er auch bei seiner Mutter. Doch inzwischen laufe das eben anders. Bürger müssten mit den Politikern sprechen, sich organisieren. »Das klappt noch nicht so gut, obwohl alle Parteien hier sehr offen sind«, so Ziller.

Generell hapere es etwas an der Selbstorganisation. »Viele sagen mir, dass sie die alten Hausgemeinschaften mit ihren Festen vermissen«, berichtet Ziller. »Aber eigentlich hindert sie niemand, das in die Hand zu nehmen.« Wohnungen allein machen halt noch keine funktionierende Stadt.

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