Exotische Beeren und Selbstsabotage

Julia Schramm über graue Januartage und den Selbstoptimierungszwang im Kapitalismus

  • Julia Schramm
  • Lesedauer: 3 Min.

»Sie haben sie doch nicht mehr alle, junge Frau«, schreit mir eine ältere Dame mit Hund entgegen, als sich unsere Wege etwas unglücklich kreuzen. Danach fühle ich mich etwas schlecht, weil, naja, so unfreundlich bin ich ungern. Als ich gedankenverloren nach dem Zusammentreffen weitergehe, rempelt mich ein junger Mann an und schreit mich ebenfalls an. So geht es die folgende Tage weiter und ich beginne an mir zu zweifeln. Habe ich was im Gesicht? Das war doch vor einem Monat noch nicht so, dass alle so angespannt und aufgeladen waren? Ist es der Januar?

Der Januar ist ein anstrengender Monat, denke ich. Alle Zeitungen und Portale sind voll mit Tipps und Resolutionen, dass das neue Jahr endlich das Jahr wird, die Leute starten wilde Diäten mit exotischen Beeren oder essen alle 3,5 Stunden 184 Gramm. Sie versuchen sich der anstrengenden Ödheit des Lebens mit neu entdeckter Disziplin zu entziehen. In den meisten Fällen erfolglos. Das schlägt aufs Gemüt. Inmitten des grauen, deutschen Januarhimmels und der bereits am 4. Januar geplatzten Vorsätze entwickeln die meisten einen Selbsthass, den viele schlicht mit einem gepflegten Alkoholproblem oder sonstiger Selbstsabotage und emotionaler Dauerkrise kanalisieren. Mitte Januar sind die meisten Menschen schon wieder so runtergerockt, dass sie direkt in den Urlaub könnten. Einige werden cholerisch, schreien Unbekannte auf der Straße an, lügen, gehen fremd, verletzten sich und andere. Die Suizidrate ist im Januar am höchsten. Denn der Stress und die Arbeit gehen ja Ende Januar erst richtig los. Vor Ostern gestattet die Gesellschaft keine große Pause mehr. Der Januar treibt die Menschen an den Rand des Wahnsinns. Der Januar ist der Montag unter den Monaten.

Aber genauso wie wir den Montag nicht hassen, weil er ein Montag ist, kann auch der Januar an sich wenig für seine nervenaufreibende Wirkung. So spiegelt sich stattdessen nur wider, was in unserer Gesellschaft ganzjährlich falsch läuft: Einsamkeit, Erfolgsdruck, Unehrlichkeit und das Verharren in der eigenen Routine bei gleichzeitigem Anspruch, dass alles anders wird. Dass dieses Jahr das Jahr wird, endlich. Der große Wurf. Der am Ende doch nicht eintritt. Stattdessen schleppen sich die Menschen von Tag zu Tag mit dem quälenden Gedanken, Versager zu sein, weil sie kein neuer Mensch geworden sind. Zwischen Lohnarbeit, den heimlichen Sehnsüchten und Wünschen, den Erwartungen der Familie und dem Präsentieren eines perfekten Lebens auf Facebook bleibt nicht viel Raum zum Atmen und Leben, zum Genießen und Reflektieren. Es bleibt nur Angst vor Einsamkeit, Erfolgsdruck, Unehrlichkeit und Frust über ein unbefriedigendes Leben im Hochglanzkapitalismus. Ängste klopfen verlässlich immer genau dann an, wenn es einem am 10. Januar dämmert, dass der Ballast des letzten Jahres nicht abgeschüttelt, der Job immer noch ätzend und die Ehe tatsächlich schon seit Jahren gescheitert ist.

Der italienische Kommunist und Schriftsteller Antonio Gramsci hasste den Neujahrstag, denn er bedeutet im Kapitalismus eine Illusion der Diskontinuität des Lebens. Ganz so, als könnten von heute auf morgen neue Menschen entstehen, als sei die anstrengende gesellschaftliche Realität mit einem Zauberstab *ping* zu überwinden. Bei Linken ist dieser Zauberstab oft die Sehnsucht nach der Revolution oder einer starken Bewegung, einem Befreiungsschlag. Aber das Leben ist kein Zustand, sondern ein ewiger Prozess, dem man sich jeden Tag neu stellen muss. Deswegen bringt es auch nichts, auf den Sozialismus oder andere befreite Zustände zu warten. Oder zu glauben, mit einer magischen Nacht ändere sich alles. Leben muss gemacht werden. Jeden Tag.

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