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Flucht in die Größe

Der Spielfilm »Frühes Versprechen« erzählt die Geschichte einer ehrgeizigen Mutter

  • Stefan Ripplinger
  • Lesedauer: 5 Min.

Im Mittelpunkt von Éric Barbiers Spielfilm »Frühes Versprechen« steht die ehrgeizige Mutter. Ehrgeizige Mütter gibt es spätestens, seitdem es die Bourgeoisie gibt. Gewiss hat die Bourgeoisie auch ehrgeizige Väter hervorgebracht, aber da diese sich meist im Büro oder bei der Mätresse befinden, spielen sie eine erfreulich geringe Rolle in der Kindererziehung.

Die Erziehung der ehrgeizigen Mutter stellt höchste Ansprüche ans Kind. Ihm bleibt kaum eine Minute zum Spielen, denn jeden Tag wird es mit einem anderen Förderunterricht traktiert, ihm wird eine glänzende Zukunft eingeredet - und wehe, wenn es einmal versagt!

Ganz genauso ist es in diesem Film. Mutter Kacew liegt jedem, vor allem aber ihrem Sohn Roman, damit in den Ohren, was für ein toller Hecht er sei und was alles aus ihm werden könne, ein Künstler, ein Botschafter, ein General, was immer. Sie schleppt ihn vom Geigenlehrer in die Benimmschule und von der Benimmschule in den Schießunterricht. Unermüdlich treibt sie ihn vor sich her, bis nicht nur er zu ihrer, sondern auch sie zu seiner Obsession geworden ist. Diese Mutter wird uns in ihrer ganzen Überspanntheit, blass, nah am Nervenzusammenbruch, von Charlotte Gainsbourg vorgestellt.

Dennoch haben wir in »Frühes Versprechen« kein Drama der bürgerlichen Familie vor uns, jedenfalls kein gewöhnliches. Denn Mutter Kacew ist eine verarmte Schauspielerin aus jüdischer Familie, die sich als Modistin und Schneiderin durchschlägt. Sie lebt mit ihrem Sohn »allein, ohne Ehemann, ohne Liebhaber«, in antisemitischer Gegend, erst, in den 1920er Jahren, im damals polnischen Wilna (Vilnius), später in Südfrankreich.

Anders als das Buch von Romain Gary (bürgerlich: Roman Kacew), das ihm als Vorlage gedient hat, deutet der Film die antisemitischen Anfeindungen hier und da an. Etwa wird der Sohn im Buch deshalb nicht zum Offizier der Luftwaffe befördert, »weil du ein Eingebürgerter bist«. Der Film spricht offen aus, was damit gemeint ist: Kacew ist ein Jude. Der Ehrgeiz von Minderheiten erklärt sich keineswegs aus Eitelkeit, Habsucht oder Streberei, sondern aus ihrem Schutzbedürfnis. Sie glauben, wenn sie nur erst respektable Bürger und am besten »berühmt« wären, wären sie vor Demütigungen gesichert.

So richtig diese Präzisierung ist, so falsch ist es, im Abspann nahezulegen, das Buch, das Gary einen »récit« nennt - das kann »Bericht« ebenso wie »Erzählung« bedeuten -, sei eine Autobiografie, bloß weil es mit Motiven aus dem Leben des Autors spielt. Im Gegenteil bestand dessen Talent gerade darin, alles, was er fand, zu überhöhen und sich zugleich größer und kleiner zu machen, als er war. Er gehört mit François-René de Chateaubriand und André Malraux zu einem Typ Schriftsteller, den es nur in Frankreich gibt: Er ist ein melancholischer Aufschneider. Dass einer Aufschneider und zugleich Melancholiker, dass er dick auftragen und zugleich höchst subtil sein kann, ist ein Widerspruch in sich. Dieser Widerspruch macht den Reiz der drei Genannten aus, die übrigens allesamt hohe Posten im Staatsapparat als Diplomaten und Minister eingenommen haben.

Barbier ist nach Jules Dassin schon der zweite Regisseur, der sich dieses Buch von Gary vornimmt, und es lässt sich ernsthaft nicht sagen, dass das nötig gewesen wäre, auch wenn der Film bis in die Nebenrollen hinein (Jean-Claude Bolle-Reddat als Antiquitätenhändler) ausgezeichnet besetzt und von einem hochprofessionellen Team produziert worden ist.

Aber hochprofessionelle Teams langweilen nicht selten mit ihrer hohen Professionalität. Und außerdem hat sich in den letzten Jahren eine merkwürdige Verschiebung im Kino vollzogen. Von allen Fächern, die an der Produktion eines Films beteiligt sind, waren früher die drei wichtigsten: Drehbuch, Kamera, Regie. Es sind nicht nur in »Frühes Versprechen« die drei am wenigsten wichtigen. Das Drehbuch schneidet Garys verspielten, sprunghaften Text über dem Lineal ab und ist dennoch unnötig weitschweifig. Die Kamera erzeugt Bilder, die so glatt sind, dass sie der Zuschauer sofort wieder vergisst. Die Regie bemüht sich zwar redlich, dem leichtfüßig überm Abgrund balancierenden Gary zu folgen, aber plumpst zu oft ins Platte.

Umgekehrt drängt sich, nicht nur in »Frühes Versprechen«, manches, was früher nicht so wichtig war, in den Vordergrund. Das gilt für die Musik, die in diesem Fall von Renaud Barbier, dem Bruder des Regisseurs, stammt und ebenso breit wie bräsig ist. Das gilt aber auch für den Schnitt, und der liegt bei Jennifer Augé in den besten Händen. Wie sie es versteht, tänzerische Bewegtheit mit ruhiger Betrachtung abzuwechseln, ist bewundernswert. Überhaupt besitzt die Montage Eleganz, etwa wenn Zeitsprünge markiert werden: Der junge Roman (Pawel Puchalski) steigt ins Meer, der jugendliche (Némon Schiffman) entsteigt ihm, der jugendliche sitzt im Arbeitszimmer, die Kamera schwenkt zum Porträt von Victor Hugo an der Wand, im Bilderglas spiegelt sich der erwachsene (Pierre Niney).

Immer wichtiger wird im Film außerdem die Tricktechnik, für die nicht nur bei »Frühes Versprechen« ein riesiger Stab an Animatoren sorgt. Viel wird damit nicht erreicht. Zwar ist es einigermaßen witzig, wenn bei einem Kinobesuch der beiden der Knabe als Wunschheld der Mutter passgenau in Alexander Wolkows Stummfilm »Der weiße Teufel« (1930) kopiert wird. Aber es ist nichts als läppische Verzierung, wenn über dem in seinem Bett Liegenden sein feuchter Traum erscheint.

»Frühes Versprechen« bietet neben einem inspirierten Schnitt drei unzweifelhafte Vorzüge: den bislang besten Auftritt von Charlotte Gainsbourg, eine notwendige Präzisierung in Sachen Antisemitismus und einen Hinweis auf Romain Gary, einen Schriftsteller, der nur dem etwas gibt, der ihm nicht glaubt.

»Frühes Versprechen«, Frankreich 2017. Regie: Eric Barbier. Darsteller: Pierre Niney, Charlotte Gainsbourg. 131 Min.

Romain Gary: Frühes Versprechen. Fischer-Taschenbuch, 415 S., 12,99 €.

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