»Tot kann ich nur wenig ausrichten«

Der linke Politiker Jean Wyllys über seine Entscheidung, nicht nach Brasilien zurückzukehren

  • Niklas Franzen & Lea Fauth
  • Lesedauer: 7 Min.

Ende Januar haben Sie aus dem Urlaub angekündigt, nicht wieder nach Brasilien zurückzukehren und Ihr Mandat als Abgeordneter aufzugeben. Was war der Grund?

Ich bin ins Exil gegangen, weil ich schon lange Morddrohungen erhalten hatte. Eine Zeit lang glaubte ich, dass diese Drohungen mich nur einschüchtern und zum Schweigen bringen sollten. Bis am 14. März 2018 eine Freundin und Parteigenossin von mir, die erst kurz vorher in den Stadtrat von Rio de Janeiro gewählt worden war, auf barbarische Art und Weise hingerichtet wurde.

Jean Wyllys
Jean Wyllys zog 2010 als erster offen schwuler Abgeordneter für die Linkspartei PSOL ins brasilianische Parlament ein. Wegen Morddrohungen entschied er sich Ende Januar, sein Land zu verlassen. In der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin sprachen Niklas Franzen und Lea Fauth mit Wyllys über seine Flucht und den ultrarechten Präsidenten Jair Bolsonaro.

… die Aktivistin und Politikerin Marielle Franco.

Genau. Mir und meinen Parteigenossen wurde damit klar, dass die Drohungen nicht nur eine Form der Einschüchterung sind. Zusätzlich zu den Drohungen per Telefon und E-Mail wurde ich das Ziel einer Diffamierungskampagne. Wenn man immer wieder erklärt, dass ein offen homosexueller Abgeordneter pädophil ist oder sich für Pädophilie stark macht, dann verwandelt man ihn in einen öffentlichen Feind – in jemanden, der ermordet werden muss.

Was wurde noch behauptet?

Die größte Falschnachricht, die während der zweiten Wahlrunde in Umlauf ging, betraf auch mich. Die Rechten haben sich ausgedacht, ich hätte als Abgeordneter ein »schwules Kit« erfunden und ich würde Erziehungsminister werden. Dieses Kit würde dann als Unterrichtsmaterial an den Schulen des Landes verteilt werden, um Kinder dazu zu erziehen, schwul oder lesbisch zu werden. Es hieß, dass es auch in Kindergärten und Kinderkrippen verteilt werden würde und dass es Babyflaschen in Form eines Penis geben würde. Dass die Mehrheit der Bevölkerung auch aufgrund solcher Lügen für den faschistischen Jair Bolsonaro gestimmt hat, zeigt, dass sie auch daran glauben will. Homosexuelle in Machtpositionen in Brasilien werden gehasst. Nachdem der Präsidentschaftskandidat Bolsonaro solche Dinge öffentlich gesagt hatte, haben sich die Leute erst recht dazu berechtigt gefühlt, auch so etwas zu sagen und vor allem, physische Gewalt gegen andere anzuwenden.

Wie fühlt es sich an, permanent bedroht zu sein?

Ganz normale Dinge, wie ins Kino oder in ein Restaurant gehen, waren für mich nicht mehr möglich. Ich habe in ständiger Angst gelebt, wie in einem privaten Gefängnis. Früher hat mich meine Offenheit gegenüber anderen Personen ausgezeichnet. Das letzte Mal, als ich einen Menschen auf der Straße anlächelte, bezeichnete mich diese Person als »Hurensohn« und »Pädophilen«. Der Wahlkampf war die Hölle für mich, weil ich nicht dorthin gehen konnte, wohin ich wollte. Überall wurde ich beleidigt und bedroht. Ich hatte ständig eine Eskorte von drei Polizisten um mich herum, um meine körperliche Unversehrtheit zu garantieren.

Sie erhalten seit vielen Jahren Morddrohungen. Wenige Wochen nach dem Amtsantritt von Jair Bolsonaro haben Sie entschieden, das Land zu verlassen. Gibt es einen Zusammenhang?

Ich habe Brasilien nicht verlassen, weil Bolsonaro die Wahl gewonnen hat. Bereits vor der Wahl urteilte die Interamerikanische Menschenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten, dass der brasilianische Staat bei meinem Schutz versagt. Aber im Wahlkampf haben die Morddrohungen deutlich zugenommen und die politische Gewalt ist nach seiner Wahl explodiert.

Wer steckt hinter den Fake News und den Morddrohungen gegen Sie?

Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen denen, die mir drohen und Fake News produzieren, und der Familie Bolsonaro. Bolsonaro war schon seit vielen Jahren Abgeordneter, als ich in den Kongress einzog. Er hat es geschafft, seine drei Söhne im Parlament zu platzieren. Es gibt also eine einzige Familie mit vier Personen, die die Institutionen dazu nutzen, mich zu diffamieren. Im brasilianischen Strafrecht wird man für Beleidigung, Verleumdung oder Diffamierung belangt – es gab also ein legales Instrument für die demokratischen Institutionen, diese Lawine von Lügen und Drohungen gegen mich aufzuhalten. Aber es wurde überhaupt nichts getan. Es gibt nämlich eine gesellschaftliche und institutionelle Homophobie. Das Leben einer LGBTI-Person ist nichts wert, auch mein Leben war nichts wert. Ich habe das viele Jahre lang erlebt und meine eigenen Strategien entwickelt, damit umzugehen und mich zu verteidigen. Aber ich habe es nicht geschafft, die Masse von Angriffen aufzuhalten. Vor Kurzem deckten Medien zudem auf, dass die Familie Bolsonaro enge Verbindungen zu den Milizen hat, die Marielle Franco ermordet haben. Bolsonaros Sohn hat in seinem Kabinett die Frau und die Mutter eines Kriminellen angestellt, der der Hauptverdächtige in diesem Fall ist. Er soll das Maschinengewehr bedient haben, aus dem die Salve kam, die den Körper meiner Freundin zerfetzt hat. Sie können sich vorstellen, dass es in Brasilien keinen Raum mehr für mich geben kann, um meine politische Arbeit fortzusetzen. Es würde meinen Tod bedeuten. Und ich würde nicht nur sterben, sondern mein Tod würde mit Fake News auch gerechtfertigt werden.

Aber ist es nicht ein Sieg der Ultrarechten und von Bolsonaro, dass Sie ins Exil gegangen sind und zum Schweigen gebracht wurden?

Die Rechten glauben, dass sie mich zum Schweigen gebracht haben. Ich bin aber weggegangen, um zu leben. Wir brauchen keine weiteren Märtyrer. Wenn ich tot bin, kann ich nur wenig ausrichten. Dann wäre es wirklich vorbei. Von außen kann ich weiterhin eine Stimme sein. In diesem Sinne ist es nicht unbedingt ein Sieg für sie, denn tatsächlich habe ich sie mit dieser Entscheidung überrascht: Ich habe mich zurückgezogen und damit eine Nachricht an die Welt gesendet.

Als Sie Ihre Entscheidung bekannt gaben, nicht nach Brasilien zurückzukehren, schrieb Präsident Bolsonaro auf Twitter von einem »großartigen Tag«, während der Vizepräsident Hamilton Mourão das erzwungene Exil als »Verbrechen gegen die Demokratie« beklagte. Was halten Sie von diesen beiden Äußerungen?

Im Vergleich zum Präsidenten hat Mourão ein Mindestmaß an Klarheit bewiesen. Aber Mourão nun als moderat zu bezeichnen, zeigt, an welchen Punkt wir in Brasilien angelangt sind. Denn der Vizepräsident ist ein Militär und der extremen Rechten zuzuordnen. Bolsonaro hat gefeiert, dass ich aufgrund von Morddrohungen das Land verlassen musste. Er verhält sich nicht wie ein Präsident, sondern ist immer noch im Wahlkampfmodus und behandelt die 40 Millionen Menschen, die nicht für ihn gestimmt haben, wie Feinde. Mit seinem Tweet hat Bolsonaro meine Entscheidung bestätigt, dass Brasilien nicht mehr sicher für mich ist.

Nun sind Sie im Ausland. Werden Sie weiter bedroht?

Ja, seit ich meine Entscheidung bekannt gegeben habe, wurden neue Drohungen gegen mich und meine Familie veröffentlicht. Und es wurden auch neue Fake News in die Welt gesetzt. Seit meinem Gang ins Exil wird gesagt, dass ich mit dem Mann liiert bin, der einen Anschlag auf Bolsonaro verübt und einen Finanzbetrug begangen hätte und deshalb das Land verlassen hätte. Brasilien befindet sich in einer Art kollektiven Hysterie, in einem Anfall von Dummheit: Alles, was bei WhatsApp auf den Smartphones erscheint, wird geglaubt.

Sie überlegen, nach Berlin zu ziehen, doch auch hier gibt es Rechtsextreme. Wären Sie sicher?

Es gibt einen Unterschied zwischen Brasilien, wo die extreme Rechte triumphiert hat und wo es eine gesamtgesellschaftlich weit verbreitete Homophobie gibt – und einer Stadt wie Berlin, wo die Diversität akzeptiert wird und LGBTI ohne große Bedrohungen leben können. Ich habe noch nie von einer LGBTI-Person gehört, die hier ermordet wurde.

Aber auch hier gibt es Übergriffe.

Und was ist die Antwort des Staates?

In der Regel Strafverfolgung.

Genau, Strafverfolgung und die Erklärung, dass LGBTI deutsche Bürger sind und respektiert werden müssen. So etwas passiert in Brasilien nicht. Zwar gibt es auch in Deutschland die Möglichkeit attackiert zu werden, aber die Chance ist viel geringer als in Brasilien.

Sie leben jetzt seit einigen Wochen in Europa. Aus Brasilien erreichen uns fast täglich neue Schreckensmeldungen. Wie gehen Sie damit um?

Ich benutze im Moment keine sozialen Medien – denn die haben meiner emotionalen Gesundheit schwer geschadet. Ich muss mich für einige Zeit von den furchtbaren Dingen fernhalten, die über mich geschrieben werden. Ich muss mich sammeln – um dann mit mehr Stärke zurückzukehren. Aber es ist sehr traurig, weit weg von meinem Land zu sein und meine Arbeit als Abgeordneter nicht machen zu können. Brasilien durchlebt seine schlimmsten Tage. Dass ich gezwungenermaßen weit weg von meinen Freunden und meiner Familie bin und alleine weinen muss, ist furchtbar.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.