Wütendes Land, sturer Präsident

Abdelaziz Bouteflika ist zurzeit in einem Genfer Krankenhaus - die Proteste in seiner Heimat halten an

  • Claudia Altmann, Algier
  • Lesedauer: 5 Min.

Seit zwei Wochen halten in Algerien die landesweiten Proteste gegen eine fünfte Kandidatur des Staatschefs Abdelaziz Bouteflika an. Täglich geht landesweit die Bevölkerung auf die Straße, um nicht nur ihre Ablehnung gegen den seit zwanzig Jahren amtierenden 82-Jährigen, sondern das gesamte regierende System friedlich kundzutun. Erstmals seit Erlangung der Unabhängigkeit 1962 demonstrieren in allen Teilen des nordafrikanischen Landes Hunderttausende Menschen mit demselben Motto: »Nein zum fünften Mandat!«. Am vergangenen Dienstag füllten Zehntausende Studierende stundenlang die Plätze und Straßen aller Universitätsstädte. Als die Polizei in Algier Wasserwerfer einsetzte, antworteten sie: »Gebt noch Shampoo dazu, dann geht’s uns gut!«

Während ihrer friedlichen Märsche werden die Demonstranten von Anwohnern mit Trinkwasser versorgt, Autos hupen im Rhythmus der Sprechchöre und von den Balkons erklingen laute Juhu-Rufe der Frauen. Der Protestwelle haben sich Anwälte, Journalisten, Lehrer und Hochschullehrer angeschlossen. Auch die Ärztekammer stellte sich in einer Erklärung hinter die Forderungen der Demonstranten.

Sie erinnerte daran, an die bei der Ausstellung des von jedem Kandidaten gesetzlich geforderten Attests, die vorgegebenen Regeln zu beachten. Im Falle des schwer kranken Präsidenten fragt sich jeder, wie jener diese Bedingung erfüllen will. Das Dokument bescheinigt den Bewerbern die physischen und psychischen Fähigkeiten zur Ausübung des höchsten Amtes im Staate - Bouteflika sitzt seit einem 2013 erlittenen Schlaganfall im Rollstuhl, zeigte sich nur noch selten in der Öffentlichkeit und ist derzeit in einem Genfer Krankenhaus. Seine erneut angestrebte Kandidatur brachte schließlich das Fass zum Überlaufen.

Der Zorn der Menschen richtet sich jetzt zugleich gegen sein Umfeld, das sich mit allen Mitteln an der Macht halten will und gegen das seit 1962 regierende System, welches für diese Strukturen den Grundstein gelegt hat. Der plötzlich ausgebrochene Widerstand hat nicht nur die Oligarchen und Nutznießer um den Präsidenten überrascht, sondern auch die politischen Parteien des Landes. Sie schauen als Zaungäste der Bewegung zu und müssen sich eingestehen, dass sie über keinen nennenswerten Einfluss und Rückhalt in der Bevölkerung verfügen. Im Laufe der Jahre haben sie sich in Querelen selbst zerlegt oder sind durch geschickte Manöver der Machthaber zur Implosion gebracht worden. Die Chefin der Arbeiterpartei musste diese bittere Erfahrung am eigenen Leibe machen, als sie am vergangenen Freitag von den Demonstranten schlicht ausgebuht wurde.

Auch die einst allein regierende Nationale Befreiungsfront, die jetzt stärkste Partei im Parlament ist und für die Bouteflika antritt, befindet sich in einem desolaten Zustand. Ihre Führungsgremien wurden aufgelöst, und an die Spitze wurde gegen jegliche Parteiregeln ein zum Präsidenten Loyaler gehievt, der zuvor auch durch einen kalten Putsch im Parlament als dessen Präsident eingesetzt worden war. Aus Dankbarkeit bezeichnete Mouad Bouchareb denn auch Abdel-aziz Bouteflika vor wenigen Wochen öffentlich als »von Gott Gesandten«.

Die einst mächtige Gewerkschaft UGTA durchlebt turbulente Zeiten. Auch ihr Generalsekretär Sidi Said wird dem engen Kreis der Vertrauten des Präsidenten zugerechnet. In den Gremien und vor allem an der Basis regt sich nun Widerstand. Gleiches gilt für den Arbeitnehmerverband FCE. Dessen Vorsitzender Ali Haddad ist ein enger Freund der Präsidentenfamilie und in den vergangenen Jahren zu einem einflussreichen und mit Aufträgen reich bedachten Geschäftsmann aufgestiegen.

Unterdessen haben am vergangenen Sonntag etwa 20 Bewerber für die Präsidentschaftskandidatur ihre Unterlagen beim Verfassungsrat eingereicht. Dieser gibt in einer Woche bekannt, wer zu der Abstimmung am 18. April zugelassen wird. Mehrere Parteiführer haben ihre Dossiers nicht eingereicht und stattdessen zum Boykott der Wahlen aufgerufen. Unter den verbleibenden potenziellen Kandidaten ist ein schillernder Milliardär, der ob seines populistischen Auftretens zwar viele Anhänger hat, dem aber von der Mehrheit der Bevölkerung bislang das Format zum Staatschef abgesprochen wird.

Anders sieht das bei einem anderen Bewerber, Ali Ghediri, aus, der als ehemaliger Militär ernster genommen wird. Dieser hat die Unterstützung des renommierten Anwalts und Menschenrechtsaktivisten Mokran Ait Larbi, der Chef seines Wahlkampfteams ist. Der General a. D. verspricht eine radikale Änderung des Systems und die Errichtung einer »Zweiten Republik«. Er hat in Moskau studiert und in Algerien einen Doktortitel erworben. Als Sohn eines Bergarbeiters steht er zugleich für die nachgewachsene Generation in der Algerischen Nationalen Volksarmee. Deren Elite gilt als moderner und gegenüber der Gesellschaft offener als die Vorgängergeneration der alten Freiheitskämpfer aus dem Unabhängigkeitskrieg und teilt nicht deren Ambitionen, sich in die Politik einzumischen. Dennoch wird die Armee von der Bevölkerung als wichtiger Faktor für die Geschicke des Landes wahrgenommen.

Der 79-Jährige Oberbefehlshaber Gaid Salah erklärte heute, die Armee werde »entschieden dafür stehen, dass alle erforderlichen Bedingungen erfüllt sind, damit die Bevölkerung ihr Wahlrecht in einem Klima der Ruhe und Stabilität ausüben kann.« Einer der meistskandierten Slogans der Demonstranten lautet »Armee und Volk sind Brüder!«.

Für Donnerstag wurde erneut zu Massendemonstrationen aufgerufen, zu denen wegen des Internationalen Frauentages noch mehr Teilnehmende als bisher erwartet werden. Bis dahin setzt die Bevölkerung auch im Alltag ihren Protest ideenreich fort. Als Beispiel gilt ein Fast-Food-Laden in Algier, auf dessen elektronischer Werbeschleife über dem Eingang zu lesen ist: »Willkommen...Pizza ab 150 Dinar...Sandwich 150 Dinar…Nein zum fünften Mandat!«

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