Der Gesichtsverlust

Der Film »Die Maske« ist eine Parabel über ein Land, das sich selbst nicht mehr wiedererkennt

Anatomisch betrachtet, ist ein Gesicht der vordere Teil des Kopfes mit Augen, Nase und Mund. Weit kommt man mit dieser nüchternen Definition allerdings nicht, denn diese Betrachtungsweise vernachlässigt die Mimik als zentrales Ausdrucksmittel des Menschen. Und ist das Gesicht nicht der »Spiegel der Seele«, wie der Volksmund weiß?

Oder, noch besser: »Was im Herzen brennt, man im Gesicht erkennt.« Ist dem folgend aber noch derselbe, wer das Gesicht eines Fremden verpflanzt bekommt? Ist das einem Menschen zugeteilte Gesicht - Muskeln und Knorpelmasse mit ein bisschen Haut darüber - so einfach austauschbar? Was manchem wie ein irrer Fiebertraum klingen mag, ist infolge des medizinischen Fortschritts längst keiner mehr, und solcherart Fragen dürften inzwischen durchaus auf den Agenden diverser Ethikkommissionen stehen.

Jacek genießt sein Dasein als cooler Außenseiter in einem kleinen Dorf in der polnischen Provinz. Lange Haare, Heavy Metal der übelsten Sorte, Spritztouren mit dem Auto, Gelegenheitsjobs auf dem Bau - das ist Jaceks Art, sich gegen sein bigottes und spießiges Umfeld aufzulehnen. Seine Familie wünscht sich nichts sehnlicher, als dass er endlich »vernünftig« wird. Jacek träumt allerdings eher davon, mit der Freundin das Land Richtung England zu verlassen, wie unzählige Arbeitsmigranten vor ihm. Sein Geld verdient Jacek auf einer Großbaustelle in der Nähe des Dorfes. Hier wird gerade die größte Jesus-Statue der Welt errichtet. Dem Film dient das Bauvorhaben als Allegorie für den tief verwurzelten Katholizismus auf dem Land, von dem letztlich auch Jacek geprägt ist. Solch eine gesegnete Arbeitsstätte bewahrt ihn jedoch nicht vor einem Unfall, der ihn entstellt zurücklässt. Unter reger Anteilnahme der Medien und der Öffentlichkeit wird daraufhin die erste Gesichtstransplantation in Polen vollzogen. Jacek ist nun ein Nationalheld, die Jesus-Statue wächst höher und höher, aber er selbst erkennt sich nicht mehr im Spiegel wieder. Nachdem sein Konterfei zur Maske geworden ist, zeigen die Menschen um ihn herum ihr wahres Gesicht. Viel bleibt da nicht mehr von der sonntäglich verkündeten Nächstenliebe und dem Mitgefühl für die Ausgegrenzten. Der offensiv gelebte Glauben schützt nicht gegen den Alltagsrassismus und den Hass auf alles Fremde, die sich hinter den Gardinen verbergen.

Oder ist er sogar die Ursache dafür? Jacek, der durchaus nichts gegen einen zünftigen Juden-/Moslem-/Frauenwitz einzuwenden hat, ist auf einmal selbst ein Gemiedener, dem die Kinder auf der Straße »Schweinsgesicht« hinterherrufen. Im Inneren ist Jacek derselbe geblieben, und doch ist er nun ein Fremder, konfrontiert mit allgemeiner Ablehnung: Das betretene Schweigen am Familientisch nach seiner Rückkehr aus dem Krankenhaus; die Freundin, die von den Heiratsplänen nichts mehr wissen will und sich voller Grausen abwendet; die Mutter, die dem Pfarrer beichtet, dass sie ihren Sohn im doppelten Wortsinne nicht mehr sehen kann. Der Medienrummel verblasst schnell, und die Kollekte im Gottesdienst, die Jaceks Behandlung finanziell unterstützen soll, erbringt am Ende kaum mehr 20 Złoty.

»Die Maske«, nach einer wahren Begebenheit erzählt, ist in seiner Vielschichtigkeit ein Glücksfall von Film. In epischem Breitwandformat und bildgewaltigen Einstellungen fragt Regisseurin Małgorzata Szumowska, was die Persönlichkeit eines Menschen ausmacht. Gleichzeitig verweist sie auf den gegenwärtigen Zustand der polnischen Gesellschaft - ein wahrer Film zur Lage der Nation. Vorbild für die übergroße Statue des vermeintlichen Erlösers (größer als die in Rio de Janeiro) ist die tatsächlich existierende, unweit der deutsch-polnischen Grenze aufgestellte monumentale Christusfigur in Świebodzin, die 2010 eingeweiht wurde. Hier wird sie zum zentralen Menetekel des Films, der weit über eine private Leidensgeschichte hinausreicht.

Wie nebenher schafft es die Regisseurin, mit ihrer Erzählung ein Sittenbild des gegenwärtigen Polen zu entwerfen. Längst hat die Religion in ihrer reaktionären Ausprägung wieder begonnen, das Bewusstsein der Gesellschaft zu formen. Erschöpft von zwei Jahrzehnten des ungezügelten Kapitalismus, sehnen sich die Menschen nach dem festen Werterahmen, den ihnen der Katholizismus schon in den Zeiten des verordneten Sozialismus bot. In Jacek sieht der Zuschauer ein Land, das sein liberales Gesicht abgelegt hat und sich nach der nationalreligiös-konservativen Umwälzung der letzten Jahre gleichsam selbst nicht mehr erkennt und sich fremd geworden ist.

Ob Małgorzata Szumowska den Konsumfetischismus kritisiert, die Sensationsgeilheit der Medien karikiert oder die Heuchelei des institutionalisierten Glaubensbetriebes entlarvt: In seiner moralischen Dringlichkeit und Ästhetik erinnert der Film »Die Maske« an die Werke des 1996 verstorbenen Krzysztof Kieslowski. Dessen Film »Dekalog« - zehn Kurzfilme, angelehnt an die zehn Gebote - hinterfragte ganz ähnlich die moralischen Wertvorstellungen der Gesellschaft, ohne dabei die enorme Komplexität menschlicher Leidenschaften außer Acht zu lassen. Über Kieslowski schrieb Stanley Kubrick einst, dass er es schaffe, »das Publikum so zu fesseln, dass dieses wirklich erforscht, was in dem Film los ist, statt sich einfach unterhalten zu lassen«.

Auch Szumowska ist das Talent zu eigen, nicht nur Ideen zu haben, sondern diese auch filmisch kongenial zu dramatisieren. Dabei ist sie wie Kieslowski eine durch und durch europäische Regisseurin, die sich nicht auf ihr Herkunftsland festlegen lässt. In diversen Koproduktionen hat sie bereits mit Juliette Binoche und Julia Jentsch gearbeitet. Inzwischen ist sie Stammgast auf der Berlinale, wo die »Die Maske« im vergangenen Jahr den Silbernen Bären für die beste Regie gewann, wie zuvor auch schon ihr Film »Body« (2015), ein Drama über Magersucht und Esoterik. Im Jahr darauf war sie sogar Mitglied der Festivaljury.

Damit dürfte Małgorzata Szumowska zu den wichtigsten Vertreterinnen der schon seit einiger Zeit zu beobachtenden osteuropäischen Nouvelle Vague gehören. Unter diesem Sammelbegriff lässt sich eine neue Generation von Filmemachern zusammenfassen, die aus der Reibung an der oftmals widrigen Realität in ihren Heimatländern aufregendes Kino schaffen. Zur traurigen Wahrheit gehört allerdings, dass die meisten dieser Autorenfilme aus Polen, Rumänien oder Bulgarien im Westen kaum wahrgenommen werden und oft nur auf den diversen Festivals zu sehen sind. Ein Versäumnis - gerade für das mit engagiertem, kritischem, sozial genauem Kino aus dem eigenen Land nicht eben verwöhnte deutsche Publikum.

»Die Maske«, Polen 2018. Regie: Małgorzata Szumowska. Darsteller: Mateusz Kosciukiewicz, Agnieszka Podsiadlik. 91 Min.

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