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Alles andere wäre feige gewesen
Sahra Wagenknecht meldet sich ab aus der Führung der LINKEN und zurück in ausstehenden Debatten
Januar 1995: Zur Vorstandssitzung der PDS begrüßt Parteichef Lothar Bisky lächelnd eine junge Genossin. Angela Marquardt heißt sie, klein, drahtig, bunte Punkerfrisur. Bisky und Gregor Gysi bauen auf diese junge Frau, wenn sie an das Bild ihrer Partei in der öffentlichen Wahrnehmung denken. Marquardt tätschelt dem Parteivorsitzenden zur Begrüßung die Wange. Etwas abseits, allein, steht Sahra Wagenknecht. Den Rücken durchgedrückt, im versteinerten Gesicht ist ein angedeutetes Lächeln konserviert. Die beiden jungen Frauen sind fast gleichaltrig, beide Mitglieder des Parteivorstands. Marquardt wird auf dem folgenden Parteitag zur stellvertretenden Parteivorsitzenden und Wagenknecht nicht wieder in den Vorstand gewählt.
Nicht viel scheint sich auf den ersten Blick in über 20 Jahren verändert zu haben. Im Juni 2018 kippt auf einem Parteitag in Leipzig die Stimmung. »Du zerlegst gerade die Partei«, ruft die Berliner Senatorin Elke Breitenbach nach Wagenknechts Rede voller Erregung ins Mikro. »Du ignorierst die Position der Mehrheit dieser Partei! Das ist unglaublich!« Im ausbrechenden Tumult steht Wagenknecht am Rednerpult, aufrecht, ihr gefrorenes Lächeln im Gesicht.
Wagenknechts Kritiker nennen sie eine Außenseiterin. Warfen ihr damals eine undemokratische und werfen ihr nun eine unmoralische Haltung vor. Linke Lauterkeit gegen parteischädigende Abweichung. Früher galt Wagenknecht als Verteidigerin der gerade untergegangenen DDR. Heute gilt sie einigen gar als verkappte Rechte - weil sie grenzenlose Freizügigkeit in der Migration in Frage stellt. Die Medien spiegelten die Abneigung ihrer innerparteilichen Gegner einst mit Beschreibungen einer »Stalinistin«, der »Frau mit den kalten Augen«, des »schönen Monsters«. Sie tippele wie eine Geisha zur Teezeremonie ans Rednerpult, beschrieb die FAZ noch 2011 mit unverhohlener Abneigung und ergänzte, als Schmuck trage sie »etwas, das aussieht wie ein überfahrener Bagel«.
Manches hat sich doch geändert. Angela Marquardt ist heute Mitglied der SPD und enge Mitarbeiterin von Parteichefin Andreas Nahles. Wagenknecht ist seit 2015 Vorsitzende der Bundestagsfraktion der LINKEN. Zusammen mit Dietmar Bartsch, einst Vertrauter Gysis und Biskys. Die damalige Studentin hat ihren Magister über Hegel und Marx erworben, hat promoviert, mehrere Bücher geschrieben und niemand stellt ihren ökonomischen Sachverstand in Frage, wenn sie als Dauergast in den TV-Talkshows sitzt. Dann könnte man sogar meinen, die Medien hätten sich mit ihr ausgesöhnt. Doch unverstellte Abneigung findet sich dort immer noch zur Genüge.
Nachdem Sahra Wagenknecht nun vor Tagen ihren Rückzug von der Spitze der Bundestagsfraktion ankündigte, wie auch von der Spitze der von ihr mitbegründeten Sammlungsbewegung »Aufstehen«, ist überall von Verständnis zu hören, und Sendungen werden ausgestrahlt, die die Gefahren beruflicher Überlastung zum Inhalt haben. Von einer Zäsur wird jetzt geschrieben, und manche Berichte lesen sich wie Nachrufe.
Die Folgen ihres angekündigten Rückzugs aber sind noch offen. Sie selbst lässt keinen Zweifel daran, dass sie noch einiges vorhat. Im Gespräch mit ihr festigt sich schnell der Eindruck, dass da nicht weniger politische Angriffslust ist als vorher. Um der gesundheitlichen Überlastung zu entgehen, befreit sie sich von jenem Teil politischer Verpflichtungen, der eine endlose Folge von Terminen zu ihrem Alltag macht. Wagenknecht will wieder lesen, zum Nachdenken kommen, wie sie sagt. Auch, weil sie meint, dass politische Felder derzeit nicht gut bestellt sind. Dass über die Ausrichtung der Linkspartei zu reden sei. Ihren Gegnern mag das nach dem ersten klammheimlichen Aufatmen noch unerwünschte Überraschungen bescheren.
Parteichef Bernd Riexinger spricht von einem personellen Einschnitt. Er will keine politischen Folgen nach einem Rückzug Wagenknechts erkennen, wie er im nd-Interview deutlich machte. Andere befürchten eine politische Zäsur nach Wagenknechts Rückzug, die über die personellen Konsequenzen hinausgeht. Was stimmt?
Dafür braucht es Antworten auf andere Fragen: Ist Wagenknecht Außenseiterin oder prägend für die Partei? Was ändert sich, wenn sie in die zweite Reihe zurücktritt? Wer es am Zulauf zu ihren Veranstaltungen misst, der wird eher tippen, dass Wagenknecht Frontfrau bleibt. Sie genießt es durchaus, wenn der Jubel nach vorn schallt. Ihr Lächeln wird dann durchsichtiger, verbirgt nicht, was sie fühlt. Auf Wahlkampfveranstaltungen dieses Jahres werde sie auftreten, kündigte sie bereits an. Wie sie auch für »Aufstehen« aktiv bleiben will. Das sei ihr wichtig.
In der Linkspartei werden besorgte Überlegungen laut, dass Wagenknecht, wie auch ihr Ehemann Oskar Lafontaine es gern tut, künftig als freie Radikale, ungebremst von amtsbedingten Konventionen, ihre Stimme erheben könnte. Ungefragt und unbequem. Schon solche Spekulationen sind das Eingeständnis ihres politischen Gewichts. Es hat sich doch einiges geändert im Verhältnis Sahra Wagenknechts zu ihrer Partei.
Auf dem Parteitag in Leipzig ging es nicht mehr um Stalinismus, nicht mehr um die DDR, nicht um die Kommunistische Plattform, die die Parteiführung damals, im Januar 1995, am liebsten losgeworden wäre und deren Galionsfigur Wagenknecht war. Doch wie schon damals ging es in Leipzig um Grundsätzliches. Wagenknecht spricht, was ihr wichtig ist, mit einiger Obsession immer wieder an. In Leipzig musste sie etwas zur Migration sagen, erklärt sie im Nachhinein. Auch wenn sie wusste, dass die Mehrheit der Delegierten anderer Meinung war als sie, die die Position der »offenen Grenzen« für einen Fehler hält. Alles andere, sagt sie, wäre feige gewesen.
Konventionen gelten ihr seit jeher wenig, scheint es. Kommilitonen erinnern sich an Wagenknecht in den 90ern, als diese zu Treffen einer PDS-nahen Hochschulgruppe an der Humboldt-Uni mondän im 20er-Jahre-Look erschien, unter einem Hut mit Netz vor dem Gesicht. Gewagt oder abseitig? Jedenfalls autonom. Noch heute habe sie diesen Hut, sagt Wagenknecht überrascht. Und sie finde ihn immer noch schön. Ihre Eigenwilligkeit hat auch eine politische Dimension. Sie lässt sie so beharrlich und unangreifbar erscheinen. Sie halte schon eine ganze Menge an Angriffen aus, bekennt sie. Das hat ihr geholfen, die Stalinismus-Vorwürfe zu überstehen und sich nicht beirren zu lassen, wenn Gregor Gysi sie auch nach 1995 mehrfach unter Androhung des eigenen Rücktritts ausbremste. Erst 2015 schließlich übernahm sie deshalb gemeinsam mit Dietmar Bartsch, einst Vertrauter von Bisky und Gysi, das Amt an der Fraktionsspitze.
Konventionen interessieren sie nicht? Es stört sie, wenn Redner in Bundestagsdebatten in Jeans ans Rednerpult gehen. Aber politischen Erwartungen von anderer Seite würde sie nie ihre Position opfern. Man dürfe sich nicht verbiegen, sagt sie. Verändert hat Wagenknecht sich trotzdem. »Je radikaler die Forderungen, desto tiefer der Fall, wenn diese dann nicht erfüllt werden können«, meint sie. Sie spielt dabei auf die Partei an, nicht auf die Positionen der früheren Wagenknecht.
Die Frau, die wegen ihrer Luxemburg-Frisur schon vor Jahrzehnten verspottet wurde und sich äußerlich kaum verändert hat, ist längst nicht mehr die von vor 20 Jahren. Auch die einst unerbittliche Gegnerin der SPD, als die sie bis heute von Sozialdemokraten beargwöhnt wird, findet man in ihr nicht mehr. 1996 warf sie der SPD vor, willfährig die Politik der Unionsparteien zu betreiben. Das war weit vor den Entscheidungen der rot-grünen Bundesregierung zum Krieg in Jugoslawien und über die Agenda 2010. Inzwischen widerspricht sie vehement - und zutreffend - dem Vorwurf, sie habe eine rot-rot-grüne Zusammenarbeit in den letzten Jahren verhindert. Koalitionen mit der SPD sind ihr kein Schreckgespenst mehr, allein deren Führung stellt sie in Frage, wenn es um die Aussichten eines solchen Konstrukts geht.
Nein, Wagenknecht ist nicht die ewig selbe geblieben. Das mag auch an Oskar Lafontaine liegen, dem einstigen SPD-Vorsitzenden, mit dem sie inzwischen verheiratet ist. Die früher so Zurückgezogene lebt im Saarland, kandidiert in Nordrhein-Westfalen, wenn sie etwa erneut ein Bundestagsmandat anstrebt, und argumentiert mit den Interessen der Abgehängten gerade in Ostdeutschland. Sogar die Waffe der Rücktrittsdrohung hat sie sich zu eigen gemacht. In der Bundestagsfraktion nehmen ihr viele immer noch übel, dass sie die Wahl ihrer Wunschkandidatin Sevim Dagdelen zur stellvertretenden Vorsitzenden zuletzt auf genau diese Weise erzwang. Dagdelen hat nun ihren Rückzug aus der Fraktionsspitze kurz nach Wagenknecht ebenfalls verkündet.
Die PDS von 1995, in der die Kommunistische Plattform die Planungen der Parteiführung durchkreuzte und ihre geforderte Auflösung verhinderte, gibt es bekanntlich schon lange nicht mehr. Seit 2007 heißt die Partei auch anders - die LINKE. Wie schon vor 20 Jahren argumentiert Wagenknecht im Namen der Bevölkerungsmehrheit, der arbeitenden und der arbeitslosen Menschen, deren Interessen von den Regierenden missachtet werden. Mit dieser Haltung gerät sie bei einem Teil der Partei inzwischen in Verdacht, die deutsche Bevölkerung wichtiger zu nehmen als andere missachtete, unterdrückte Menschen, wichtiger als Migranten nämlich. Der Begriff vom Volk ist bei Teilen der Linken in Misskredit geraten. Und während neue Wähler sich gerade deshalb zur LINKEN hingezogen fühlen, sieht ein Teil der bisherigen Wählerschaft sich nicht länger von ihr vertreten. Dies ist ein Konflikt nicht nur in der deutschen Linken. Hier aber wird er besonders erbittert ausgetragen, scheint es.
Dafür, dass sie angeblich Außenseiterin ist, hat Wagenknecht eine beträchtliche Anhängerschar versammelt. Doch ist die Frau, wenn sie in den Runden von Anne Will und Sandra Maischberger sitzt, nicht längst Teil eines Rituals geworden, jenes Systems, das sie abschaffen will? Zugleich kann man ihr kaum vorwerfen, zu tun, was sie tut. Die Politik mit kreativen Ideen von einem Tag auf den anderen aufzumischen, das Wesen der Dinge in Erinnerung zu rufen, wo alle Kunst darin zu bestehen scheint, in Scheindebatten von ihm abzulenken - das fordert nicht nur Verstand, sondern unverändert auch Mut.
Die politische Gleichung jedoch gilt nicht mehr: Wagenknecht ist gleich Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse und ungleich Mitgestaltung dieser Verhältnisse durch Regierungsbeteiligung. Heute spricht die 49-Jährige von Spielräumen, die die LINKE nutzen sollte, indem sie »vernünftig« regiert. Von einer Balance, die sie hinbekommen müsse zwischen der Verantwortung in Landesregierungen und der Opposition zur Bundespolitik. Und in der Bundespolitik? Eigentlich sollte »Aufstehen« hier Druck für Veränderung entfalten. Das Anliegen sei noch nicht eingelöst, sagt Wagenknecht. Es klingt wie eine Kampfansage. Das soll es auch.
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