Die Europastadt als »Trophäe«

In Görlitz wird Ende Mai ein neuer Oberbürgermeister gewählt - und die AfD rechnet sich Chancen aus

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 5 Min.

In Görlitz gehen die Uhren richtig - ganz präzise nach dem Sonnenstand. Durch die Stadt verläuft der 15. Längengrad, der seit 135 Jahren maßgeblich ist für die mitteleuropäische Zeit (MEZ). Ein Meridianstein nahe der Neiße weist darauf hin. Er steht gleich neben der Görlitzer Stadthalle, einem Jugendstilbau, der 1910 als Konzerthaus eröffnet wurde, zuletzt aber vor sich hin dämmerte: 2004 mangels Wirtschaftlichkeit geschlossen, 2015 wegen Einsturzgefahr gesperrt. Nun gibt es Hoffnung. Bund und Land haben je 18 Millionen für die Sanierung in Aussicht gestellt.

Zu den Fragen, ob das mehr ist als ein vages Versprechen und wie der Bau nach Fertigstellung bespielt würde, streiten derzeit die Bewerber für das Amt des Oberbürgermeisters, der in der 55 000 Einwohner zählenden östlichsten Stadt der Bundesrepublik am 26. Mai gewählt wird. Noch führt Siegfried Deinege deren Verwaltung. Doch der Ex-Manager im großen örtlichen Werk des Schienenfahrzeugherstellers Bombardier, der 2012 mit sehr breiter Unterstützung der kommunalen Politik aufgestellt wurde, um einen ungeliebten Vorgänger abzulösen, tritt nicht wieder an.

Die jetzt anstehende Abstimmung hat Bedeutung weit über das Lokale hinaus. Schließlich scheint es nicht ausgeschlossen, dass Görlitz als erste Stadt dieser Größe von der AfD regiert wird. Die Partei stellte bisher kaum Chefs in Rathäusern. Ein erster trat 2016 in Reuth im Vogtland von der DSU zu den Rechtspopulisten über, ein anderer im März 2018 in Burladingen in Baden-Württemberg. Zuletzt wurde im brandenburgischen Lebus ein AfD-Mann auch gewählt, was sich jedoch später als ungültig erwies. Eine Stadt wie Görlitz aber wäre ein ganz anderes Kaliber.

Rechnerisch scheint für die AfD einiges drin. 2017 erzielte sie bei der Bundestagswahl im Stadtgebiet 31,5 Prozent und lag damit sechs Punkte vor der CDU; im Wahlkreis Görlitz jagte AfD-Mann Tino Chrupalla dem langjährigen Abgeordneten und heutigen sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer zudem das Direktmandat ab. Bevor es bei der Landtagswahl im September wohl erneut zu diesem Duell kommt, wollen die AfD und ihr Bewerber Sebastian Wippel bei der OB-Wahl den nächsten Coup landen. Die »Europastadt«, als die sich Görlitz wegen der Lage direkt an der polnischen Grenze beschreibt, gelte der europafeindlichen AfD als »Trophäe«, glaubt die Grünenpolitikerin Franziska Schubert.

Schubert gehört zu denen, die das verhindern wollen. Die 36-jährige ist unweit von Görlitz in der Oberlausitz gebürtig, seit 2014 Abgeordnete im Dresdner Landtag und eine von zwei jungen Frauen, die sich um den Chefposten im Rathaus bewerben. Die andere ist die fast gleichalte geborene Görlitzerin Jana Lübeck, die von der LINKEN ins Rennen geschickt wurde. Als Kulturmanagerin, die zeitweise im örtlichen Theater beschäftigt war und nun in einem soziokulturellen Zentrum arbeitet, ist sie in Görlitz gut vernetzt: »Ich muss mich nicht erst bekannt machen«, sagt sie. Allerdings hatte sie bisher nie ein Mandat inne.

Vierter Bewerber ist der CDU-Politiker Octavian Ursu, 1967 in Rumänien geboren, ab 1990 zunächst Trompeter und Betriebsrat im Görlitzer Theater und seit fünf Jahren im Landtag. Noch vor wenigen Jahren wäre er der unangefochtene Favorit gewesen; bei der Stadtratswahl 2014 brachte es die CDU in Görlitz auf 33 Prozent. Die LINKE holte 15 Prozent, die Grünen nur sechs. Eine Bewerbung wie die Schuberts hätte als ehrenwert, aber chancenlos gegolten.

Doch die politischen Verhältnisse in Sachsen sind ins Rutschen gekommen. Die AfD macht der CDU gerade im Osten des Freistaats viele Wähler abspenstig. Neben aggressiver Polemik gegen Zuwanderung - Wippel redet etwa von »CDU-importierten Terroristen« - setzt sie dabei auf das Thema Grenzkriminalität. »Mit Grenze lebt sich’s besser«, plakatiert die AfD. Ursu verweist auf die vom Land geplante Videoüberwachung, wirkt aber wie ein Getriebener.

Zugleich formieren sich in Abgrenzung zu den Rechtspopulisten neue Allianzen. Schubert wurde von der Wählergruppierung »Bürger für Görlitz« zur Kandidatur ermuntert, die im Stadtrat mit 20 Prozent zweitstärkste Kraft ist, und wird auch von einer Bewegung namens »Motor Görlitz« unterstützt. »Nur als Grüne hätte ich es nicht gemacht«, sagt sie. Noch breitere Absprachen, wie es sie zuletzt bei der OB-Wahl in Meißen gab, wurden in Görlitz dem Vernehmen nach erwogen. Dort hatten auch LINKE, SPD und Grüne den von einem Bürgerbündnis aufgestellten Frank Richter, Ex-Chef der Landeszentrale für politische Bildung, unterstützt. An der Neiße kam es aus unterschiedlichen Gründen nicht zu einer Einigung. Für den vermutlich erforderlichen zweiten Wahlgang indes, sagt der Görlitzer Landtagsabgeordnete der LINKEN, Mirko Schultze, »ist alles drin«.

Unter welchen Vorzeichen dieser erfolgt, bleibt abzuwarten. Schubert geht von einer Wahl »zwischen zwei Polen« aus: ihr und Wippel. Der Bewerber der CDU werde als nicht sehr aussichtsreich empfunden und habe kaum Chancen auf den Sieg, sagt sie; zugleich fürchtet sie, beim erwarteten Duell nicht auf Schützenhilfe der CDU setzen zu können: »Für die scheint nicht die AfD der Hauptkonkurrent zu sein, sondern eine junge Frau mit roten Haaren und grünem Parteibuch.«

Dagegen glaubt Schultze an ein deutlich offeneres Rennen - und hält es für ausgeschlossen, dass Wippel den Sieg holt. »Die Leute wählen die Rechten, weil sie der Regierung eins auswischen wollen«, sagt er: »Aber sie wollen keinen Bürgermeister von der AfD.« Ob seine Prognose zutrifft, steht spätestens nach dem zweiten Wahlgang am 16. Juni fest, nachdem die Wahllokale geschlossen haben - um 18 Uhr, und zwar ganz präzise.

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