Stürzt euch auf ihn - und zwar mit Schmackes

Das Beispiel Kevin Kühnert verdeutlicht die alte Maxime des SPD-Kanzlers Schmidt: Wer Visionen hat, möge zum Arzt gehen.

  • Stephan Lessenich
  • Lesedauer: 5 Min.

Eines muss man Andreas Scheuer lassen: In Sachen »verschrobenes Retro-Weltbild eines verirrten Fantasten« macht ihm niemand etwas vor. Die autoverliebte, offen konzernfreundliche Verkehrspolitik des CSU-Bundesministers ist so was von Retro, so fantastisch ewig gestrig, dass sie an Tiefpunkten fast schon an die intellektuellen Irrungen der internationalen Klimaleugnerindustrie erinnert. Insofern darf man wohl sagen: Der Mann weiß, wovon er redet.

Was aber hat den Verkehrsminister so aufgebracht, dass er sein Innerstes nach außen kehrt und unvermittelt auf andere projiziert? Nun, wahrhaft Abgefahrenes: Ein junger Mann, seines Amtes Vorsitzender der Jugendorganisation der ältesten demokratischen Partei Deutschlands (SPD), gibt ein Zeitungsinterview, in dem er über Fragen des Privat- und Gemeineigentums sinniert und letzterem den Vorzug gibt. Nur logisch, dass da die halbe politische Klasse spontan Kopf steht.

Zur Person
Stephan Lessenich ist Professor am Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er hat die Kleinpartei mut mitgegründet.

Das zentrale Reizwort, das den Jungpolitiker Kevin Kühnert in den Augen nicht nur der CSU zum verirrt-verschrobenen Retro-Fantasten macht, lautet »Sozialismus«. Nur am Rande: Es handelt sich bei Herrn Kühnert um den aktuellen Chef der Jusos, was ein Kürzel für »Jungsozialisten« ist – man hätte also so was ahnen können. Aber sei’s drum. »Sozialismus«: Es gibt wenige Worte, die in deutschen Ohren einen ähnlich schweren Tinnitus-Effekt hervorrufen. Vielleicht noch »Kapitalismus«. Selbst das Gegenstück des Sozialismus darf man ja hierzulande nur als »Marktwirtschaft« bezeichnen. Und gut, »Tempolimit« natürlich, denn für die Scheuers der Republik ist das nichts anderes als ein verabscheuungswürdiger Angriff auf die Bürgerrechte.

»Kapitalismus«: Wo kämen wir da hin, wenn wir das Kind beim Namen nennen würden? Wenn man unser Wirtschaftssystem als das beschriebe, was es ist: Ein System des Privateigentums und der Lohnabhängigkeit, in dem die Privateigentümer in einem Herrschaftsverhältnis zu den Lohnabhängigen stehen. »Bitte nicht weitersagen!« heißt die Losung, die diese Gesellschaft mindestens ebenso im Innersten zusammenhält wie Exportüberschüsse, Altersrente und Nationalmannschaft.

Und nun das: Da kommt jemand auf die Idee, dass die Mietpreissteigerungen, die vielen Menschen auch außerhalb der »Ballungsräume« das Leben schwer machen und offensichtlich politisch nicht zu bremsen sind, etwas mit den Wohnungsbesitzverhältnissen zu tun haben könnten. Voll verschroben! Da behauptet der Jungspund doch glatt, dass man angesichts von »Dieselskandalen«, organisierter Nicht-Nachhaltigkeit und – so wäre wohl zu ergänzen – der Interessenverstrickungen des zuständigen Ministers über andere Eigentumsformen in der Automobilindustrie nachdenken könnte. Nicht zu fassen, mehr Retro ist wohl nur Greta Thunberg. Aber die ist ja noch minderjährig.

Der Kevin hingegen sollte es mittlerweile eigentlich besser wissen. Er sollte sich die ideologischen Hörner bei seinem Marsch durch die parteipolitischen Gremien hinlänglich abgestoßen haben, um nicht mehr solch »groben Unfug« – so der große SPD-Haushaltspolitiker Johannes Kahrs treffend – zu verzapfen. Er sollte mittlerweile wissen, was man als Repräsentant der marktkonformen Sozialdemokratie denken darf – und wo die selbstauferlegte Denkverbotszone beginnt. »Sozialismus« muss da leider draußen bleiben.

Das ist denn auch – wenn überhaupt – die eigentliche Nachricht: Nicht, dass mit einem CSU-Minister die Gäule durchgehen, als sei er noch Generalsekretär seiner Partei mit Lizenz und Auftrag zur »Zuspitzung«. Sondern, dass man einen Sozialdemokraten, der nicht in der allerhintersten Reihe eines SPD-Ortverbands auf bessere Zeiten wartet, öffentlich von Enteignungen reden hört, von genossenschaftlich organisierten Schlüsselindustrien. Wohlgemerkt: reden. Hier schreitet kein Minister zur Tat, hier ist kein Parteitagsbeschluss gefällt worden. Hier hat nur einer laut gedacht und gesagt, dass im gesellschaftlichen »Optimalfall« Menschen keine Wohnungen besäßen, in denen sie nicht selbst wohnen.

Als Sozialdemokratin bleibt einer da die Spucke weg. Die Parteivorsitzende musste vor ihrer angemessen rigiden Zurechtweisung des Emporkömmlings wohl erst einmal recherchieren lassen, ob sie dereinst als Juso-Vorsitzende nicht womöglich ähnlich vaterlandsloses Zeugs daher gequatscht hat. Bis dahin übernahm der SPD-Generalsekretär den Job und ließ den vorlauten Kevin über das Klingbeil springen: Distanziert-gönnerhaft verwies er darauf, dass dieser über eine »gesellschaftliche Utopie« spreche, die mit politischen Forderungen seiner Partei nichts zu tun habe. Gut, dass das hier nochmal so eindeutig klar gestellt wurde. Wer grad mal ein dreiviertel Jahrhundert aus der Welt und von Nachrichten über die Sozialdemokratie abgeschnitten gewesen war, hätte doch glatt anderes meinen können.

So aber wird heute die seit Jahrhundertkanzler Helmut Schmidt geltende intellektuelle Beschlusslage der SPD nochmals in hilfreicher Deutlichkeit auf den Punkt gebracht: Wer Visionen hat, möge zum Arzt gehen. Und wer sich das utopische Denken nicht selbst verbietet, ist im Haus der Sozialdemokratie ziemlich allein. Nicht nur, wenn er Kevin heißt.

So wird sich die Sozialdemokratie wohl an die einfühlsam-besorgte Warnung Alexander Dobrindts halten, bloß nicht einem »Neo-Sozialisten« hinterher zu laufen. Der Rat ist sicher gut gemeint, aber eigentlich doch überflüssig. Der Chef der CSU-Landesgruppe im Bundestag kann sich getrost weiter der ihm am Herzen liegenden »Konservativen Revolution« widmen, über die sich das politische Berlin neulich nicht ganz so arg echauffierte wie über die aktuelle »Sozialismus«-Nummer aus dem Hause Kühnert. Vermutlich, weil Dobrindts Formel nicht etwa an verirrte Fantasten gemahnte, sondern an reale Antidemokraten, die dem Nationalsozialismus den Weg bereiten halfen. War aber sicher nicht so gemeint.

Man darf mithin gespannt sein, was als nächstes die vegetativen Reaktionen der politischen Ordnungshüter aller Parteien zu Tage fördern – und wer den neuesten Aufreger liefern wird. Die Jusos haben ihre Schuldigkeit getan, die Grünen hatten ja schon vor geraumer Zeit ihren V-Day. Wie auch immer: In jedem Fall wird wieder Andreas Scheuer Gewehr bei Fuß stehen, um allfällige Verstöße gegen den »gesunden Menschenverstand« zu geißeln. Denn für das Ausbremsen gesellschaftlicher Grundsatzdebatten darf es keine Geschwindigkeitsbegrenzung geben.

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