Wählen wie alle

Wohnungslose Menschen dürfen bei Wahlen ihre Stimme abgeben, doch leicht gemacht wird es ihnen nicht

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 9 Min.

Wann hat sie das letzte Mal gewählt? Christel T. denkt kurz nach. Es ist Anfang April, ein kalter und sonniger Vormittag, und sie - klein, schulterlanges Haar, eine Daunenweste über dem Rollkragenpulli - steht vor dem Wahlamt in der Müllerstraße 146 im Berliner Bezirk Mitte. Dort will sie sich ins Wählerverzeichnis aufnehmen lassen. »Das war definitiv vor der Wohnungslosigkeit«, sagt sie. »Nachdem ich 2012 meine letzte Wohnung verloren hatte, habe ich das nie hingekriegt. Dabei habe ich bei den Bundestagswahlen 2017 sogar einen Aufruf veröffentlicht, dass Wohnungslose unbedingt ihr Wahlrecht wahrnehmen sollten, aber dann habe ich es selbst verpeilt.« Christel T. lacht. »Das können Sie ruhig schreiben, auch wenn es ein bisschen peinlich ist. Aber die Sache ist: Ich hab so ein Bewusstsein, dass ich wähle, wenn alle anderen auch wählen, und da nicht noch so einen Zirkus veranstalte.« Doch eigentlich, sagt sie, kennt sie die Regeln. Und dieses Mal, bei den Europawahlen, will Christel T. ihre Stimme abgeben.

»Die Regeln« sehen vor, dass wohnungslose Menschen in der Gemeinde, in der sie sich für gewöhnlich aufhalten, einen Antrag darauf stellen müssen, in das Wählerverzeichnis aufgenommen zu werden. Anders als Personen mit festem Wohnsitz und deutscher Staatsbürgerschaft oder EU-Bürger, die schon bei vergangenen Europawahlen in Deutschland mitgewählt haben: Diese bekommen mit der Post ihre Wahlbenachrichtigung nach Hause geschickt. Bei wohnungslosen Menschen ist dies nicht möglich. Ein Wahlrecht haben sie dennoch.

Mehr als eine Million 
Betroffene

Eine offizielle Statistik über Wohnungslosigkeit gibt es – anders als in einigen anderen Ländern der Europäischen Union – in der Bundesrepublik nicht. Ende der Nullerjahre lag die Zahl der Wohnungslosen Schätzungen zufolge bei etwa 220.000.

Seither ist in dem Land mit einem der größten Niedriglohnsektoren der EU und einem strengen Hartz-IV-Regime, die Zahl der Menschen, die keine eigene Wohnung mehr haben, stark angestiegen. 2016 waren es laut Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V schon etwa 860.000 Menschen, schätzungsweise 52.000 davon lebten auf der Straße. Die BAG prognostizierte damals, dass die Anzahl wohnungsloser Menschen bis 2018 auf 1,2 Millionen steigen würde. Gerade in den Großstädten dürfte die Mietenentwicklung dabei eine große Rolle spielen.

Wohnungslosigkeit ist nicht identisch mit Obdachlosigkeit: Die meisten Wohnungslosen leben nicht auf der Straße, sondern schlagen sich von vorübergehender Unterkunft zu vorübergehender Unterkunft durch.

Die BAG Wohnungslosenhilfe definiert als wohnungslos, »wer nicht über einen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum verfügt«. Darunter fallen auch Menschen, die beispielsweise ohne Mietvertrag untergebracht sind, die sich in Heimen, Notübernachtungen, Asylen oder Frauenhäusern aufhalten. Darunter sind laut BAG auch viele Menschen, die durch ihre Unterkunft über eine Meldeadresse verfügen und Wahlunterlagen zugestellt bekommen. net

In Erfahrung zu bringen, wie man es auch wahrnehmen kann, ist allerdings nicht so einfach. Wer die Webseite des Bundeswahlleiters aufruft, findet dort Anfang April auf der Startseite Informationen zur Briefwahl, zu zugelassenen Parteien oder auch darüber, was zu tun ist, wenn man noch kurz vor der Wahl umzieht. Später auch darüber, welche Folgen der Brexit-Aufschub für die in der Bundesrepublik lebenden Briten hat. Mit einem Klick auf »Informationen für Wählerinnen und Wähler« erscheinen weitere Erläuterungen zum Wahlrecht von EU-Bürgern in Deutschland und Deutschen im EU-Ausland.

Um zu den Informationen für wohnungslose Menschen zu gelangen, muss man sich wiederum recht umständlich durch ein auf der Seite unter »Service« verstecktes »Wahllexikon« klicken. Und zwar bis zum Schlagwort: »Nicht Sesshafte«. Da dieses »Lexikon« aber für alle Wahlen, nicht speziell für die Europawahlen, gilt, findet sich dort mindestens eine falsche Information, nämlich die, dass nur »wohnungslose Deutsche« einen Antrag auf Aufnahme ins Wählerverzeichnis stellen könnten. Was für wohnungslose EU-Bürger gilt - allein in Berlin leben davon Schätzungen zufolge mehrere Tausend und sie haben bei Europawahlen ebenfalls das Wahlrecht -, erfährt man nicht. Unter den Antragsformularen fehlt überdies eines, mit dem sich Wohnungslose, ob nun deutsche oder nicht-deutsche, in das Wählerregister eintragen lassen können. Ein einheitliches Formular gibt es offenbar gar nicht, anders als für Unionsbürger (mit Wohnung).

Dabei betrifft die Frage des Wahlrechts bei Wohnungslosigkeit immer mehr Menschen. Und dem »Gesetz über die Wahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland« zufolge gilt wie bei allen anderen Wahlen auch, dass die Abgeordneten nicht nur in allgemeiner, unmittelbarer und geheimer, sondern auch in freier und gleicher Wahl bestimmt werden.

Wie kann es also sein, dass die etwa 100 000 in Deutschland lebenden Bürger des Vereinigten Königreiches scheinbar mühelos, schon auf der Startseite des Bundeswahlleiters, informiert werden über ihre Rechte bei den Europawahlen - und Hunderttausende Wohnungslose nur unzureichend? Christel T. hält dies nicht für ein zufälliges Versäumnis. »Menschen ohne Wohnung wird es schwer gemacht, der Apfel immer höher gehängt«, sagt sie. Warum? »Vielen Menschen kommt es falsch vor, wenn Wohnungslose ein Recht bekommen, ohne dabei kontrolliert zu werden«, glaubt Christel T. »Daraus folgt Diskriminierung.«

Kontrolle und Diskriminierung aufgrund von Armut - dagegen ist Christel T. seit vielen Jahren politisch aktiv und darüber schreibt sie auch als Autorin. Vor allem richtet sich ihr Aktivismus gegen Hartz-IV-Sanktionen, von denen sie selbst mehrfach betroffen war, bis sie schließlich 2015 komplett aus dem Bezug rausflog. Je ärmer, so Christel T., desto geringer die Wahlbeteiligung. Dieser Zusammenhang ist bekannt. Arme Menschen gehen seltener wählen als solche mit höherem Einkommen. Und der Verdacht liegt nahe, dass die Wahlbeteiligung unter Wohnungslosen besonders niedrig ist. Deutschlandweite Zahlen gibt es nicht. Eine Sprecherin des Bundeswahlleiters teilt auf Anfrage mit, dass keine Zahlen darüber vorlägen, wieviele Wohnungslose in Deutschland beispielsweise den Antrag auf Aufnahme ins Wählerregister gestellt oder dies bei den letzten Wahlen getan haben. Sie verweist, wie auch die Berliner Landeswahlleiterin, an die Gemeinden, in Berlin sind das die Bezirke. Christel T. vermutet, dass die wenigsten Wohnungslosen von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen. Gründe dafür gibt es viele: Sicher spielt eine Rolle, dass die Sorgen armer Menschen von der Politik nachweislich seltener beachtet und ihre Wünsche kaum erfüllt werden. Mangelnde Information und hohe Hürden tragen möglicherweise auch dazu bei, dass viele nicht wählen.

Mit der Pressemitteilung »Auch Obdachlose können mitwählen« informierte am 26. April, zweieinhalb Wochen nach Christel T.s Gang zum Wahlamt, die Landeswahlleiterin von Berlin die Öffentlichkeit: Sieben Tage bevor die Frist, bis zu der Anträge auf Aufnahme in das Wählerregister eingegangen sein mussten, endete. Auf Nachfrage zu dem späten Zeitpunkt, erklärt die Landeswahlleiterin, bei einer früheren Veröffentlichung hätte die Gefahr bestanden, »dass die Pressemitteilung aufgrund der Osterfeiertage und meiner anderen Pressemitteilungen zum Beginn der Briefwahl und zum Versand der Wahlbenachrichtigung untergeht und keine Medienresonanz findet«. Nach der Veröffentlichung sei »ausreichend Zeit zur Antragstellung« geblieben.

Ob Betroffene da noch erreicht werden konnten? Auf die Frage nach speziellen Bemühungen, Wohnungslose über ihr Wahlrecht zu informieren, antwortet die Sprecherin des Bundeswahlleiters, dazu »ist uns nichts bekannt«. Die Berliner Landeswahlleiterin erklärt, sie habe im Februar 2019 ein Merkblatt an »die zuständige Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales« gegeben. Eine Sprecherin der Senatsverwaltung wiederum sagt, man habe am 11. April dieses Merkblatt mit einem Anschreiben an alle Träger der Wohnungslosenhilfe verschickt. Dirk Heinke von der Fachgruppe Migration der Landesarmutskonferenz Berlin sagt im Gespräch mit Blick auf die wohnungslosen EU-Bürger in der Hauptstadt, er habe »nicht den Eindruck, dass es ein Informationskonzept gab. Das hing individuell vom Engagement der Beratungsstellen ab«.

Die Landesarmutskonferenz Berlin versucht seit 2011 unter anderem mit der Aktion »Wir kommen wählen!« auch Menschen zu erreichen, die selten wählen oder nicht wissen, dass sie wählen können. Eine Gruppe Studierender der Katholischen Hochschule, die mit »Wir kommen wählen!« kooperiert, bemüht sich im Vorfeld der Wahlen, betroffene Menschen anzusprechen: Mit Informationen über Inhalte, die zur Wahl stehen, aber auch über das Wahlrecht, wie Rebecca Heimsoth, Studierende der Sozialen Arbeit und Mitarbeiterin der Wohnungslosenhilfe, erklärt. Die Kollegen der verschiedenen Träger würden sich dazu immer wieder austauschen. Und aus Mangel an zentralem Material, habe man, so Heimsoth, einen eigenen Infoflyer erstellt sowie auf hilfreiches Material der gemeinnützigen Arbeiterwohlfahrt zurückgegriffen. »Mieten sind das große Thema bei den Parteien«, sagt sie. »Doch Informationen für wohnungslose Menschen wiederum sind rar.«

Tatsächlich sind in Berlin die Bezirksämter von Neukölln, Mitte und Spandau die einzigen, auf deren Seiten man Informationen über Wahlmöglichkeiten für Wohnungslose findet. Und einzig in der bereits am 2. April veröffentlichten Mitteilung des Neuköllner Wahlamtes wird auch auf einen Fristbeginn verwiesen. Dort heißt es nicht nur, bis zum 3. Mai müsse, sondern auch, erst ab dem 15. April könne die Aufnahme ins Wählerverzeichnis beantragt werden.

Davon aber weiß Christel T. am 9. April nichts. Sie hat sich auf der Seite des Bundeswahlleiters und des Bezirksamtes Mitte informiert - einen Hinweis wie beim Bezirksamt Neukölln sucht man dort vergeblich. Beim Bundeswahlleiter heißt es lediglich, der Antrag müsse bei der zuständigen Gemeinde »spätestens bis zum 21. Tag vor der Wahl gestellt sein«. Als Christel T. das Wahlamt betritt, ist ihr Ziel deshalb, sich zu registrieren und gleich im Anschluss zu wählen. Unter Berufung auf den - unbekannten - Fristbeginn aber versucht ein Mitarbeiter des Wahlamtes zunächst, Christel T. abzuwimmeln. »Da müssen Sie nächsten Montag wiederkommen«, sagt er, nachdem sie an einer Tür geklopft und ihr Anliegen vorgebracht hat. »Ich bin aber ab Samstag für ein paar Wochen nicht in Deutschland. Wenn ich zurückkomme, ist die Frist abgelaufen«, sagt sie. Der Mann zieht irritiert die Augenbrauen hoch: »Na, dann müssen Sie halt Ihre Reisepläne ändern.« »Ich verreise nicht aus Spaß, sondern weil ich dort für ein paar Wochen ein Dach über dem Kopf habe«, sagt Christel T. Und dann sagt sie einen entscheidenden Satz: »Heißt das, dass mir das Wahlrecht aberkannt wird?«

Später bei einem Kaffee nennt Christel T. das »auf hilfsbereit drehen«. Es ist eine Strategie, die sie über viele Jahre entwickelt hat. Beim Jobcenter funktioniere das kaum, denn dort werden Mitarbeiter nicht darauf getrimmt, Menschen dabei zu helfen, ein Recht wahrzunehmen, sondern, im Gegenteil, sie zu gängeln. Beim Wahlamt ist es offenbar etwas anders: Dessen Aufgabe ist es, einen reibungslosen Ablauf von Urnengängen zu organisieren und Menschen bei der Ausübung ihres Wahlrechts zu unterstützen. Zwar wird auch hier auf Wohnungslose herabgeblickt, doch die direkte Konfrontation mit den Folgen seiner Abwimmelversuche bringt den Amtsmitarbeiter zum Einlenken.

Er wolle »klarstellen«, dass er keinesfalls meine, sie könne nicht wählen, sagt der Mann schon deutlich freundlicher. Und dass er sich mit seinem Chef beraten müsse. Dann verschwindet er für ein paar Minuten und kommt schließlich mit einem Antrag zurück. »Den können Sie ausfüllen und hierlassen oder in den Briefschlitz draußen werfen, dann werden sie auf jeden Fall in das Wählerregister aufgenommen«, erklärt er beflissen. Christel T. bedankt sich und nimmt den Antrag mit. Direkt nach dem Gang zum Wahlamt ist sie noch unentschlossen. Es ist ein Erfolg, dass sie sich nicht hat abwimmeln lassen und die Registrierung regeln konnte. Doch eigentlich wollte sie direkt wählen, denn sie kann nicht sicher sein, rechtzeitig wieder nach Berlin zu kommen. Das hat nicht geklappt, die Briefwahlunterlagen gibt es tatsächlich erst am folgenden Montag.

Einen Tag später schickt Christel T. eine Nachricht: »Ich habe dann gleich gestern noch den Antrag ausgefüllt und eingeworfen«, schreibt sie. »Falls ich am Wahltag in Berlin bin, kann ich dort wählen.« Außerdem hat sie einen Vorschlag, wie es in Zukunft besser laufen könnte: Die Regeln für die Registrierung sollten vereinfacht werden, meint Christel T. Natürlich müsse irgendwann das Wählerregister geschlossen werden. »Aber der Beginn der Frist könnte deutlich nach vorne verlegt und die Zeit, in der eine Registrierung möglich ist, damit verlängert werden.« Und sie schreibt, dass, wenn es für Wohnungslose ein Antragsformular zum Download und bundesweit einheitlich gäbe, Aktivisten und politisch Engagierte recht einfach Kampagnen zur Registrierung machen könnten. Für Christel T. ging es, das wird in ihrer Mail noch einmal deutlich, nie nur darum, individuell das Wahlrecht in Anspruch nehmen zu können. Es geht ihr auch um Grundsätzliches: den Ausschluss einer wachsenden Gruppe von Menschen von einem Grundrecht zu bekämpfen.

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