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Der Geist von Gezi geht wieder um
Yücel Özdemir über die gestohlene Bürgermeisterwahl in Istanbul - und Chancen, die sich daraus ergeben
Nachdem eine Mehrheit des Hohen Wahlausschusses YSK am 6. Mai darüber abgestimmt hatte, die Bürgermeisterwahlen in Istanbul zu annullieren, wurde diese Entscheidung von der Opposition zurecht als »Putsch« bezeichnet. Die Türkei, die schon mehrere militärische und zivile Putsche erlebt hat, wurde zum ersten Mal Zeuge dieser Form des Unrechts. Dass der YSK bei seiner Entscheidung nur eine von vier Stimmen, die in den gleichen Wahlumschlag gesteckt wurden, als ungültig wertete, ist wohl der auffälligste Widersinn.
Recep Tayyip Erdoğan und die AKP haben sehr darum gekämpft, Istanbul nicht an die Opposition übergeben zu müssen. Ekrem Imamoğlu von der CHP, der als Kandidat der Opposition die Wahlen gewonnen hatte, erhielt seine Bürgermeisterurkunde erst 18 Tage nach dem Wahltag vom 31. März - und ebenso lang durfte er schließlich im Amt bleiben. Selbst in dieser kurzen Amtszeit konnten einige Veränderungen zugunsten des Gemeinwohls umgesetzt werden. Dank Imamoğlus Initiative wurde beispielsweise der Preis für das Monatsticket für Schüler und Studierende von 85 auf 40 Lira, der Wasserpreis für Großfamilien um 40 Prozent gesenkt.
Die unter Druck gefällte Entscheidung des Wahlausschusses, den Urnengang wiederholen zu lassen, sorgt nicht nur in der Opposition, sondern auch in der Regierungspartei AKP selbst für Unbehagen. Der ehemalige Präsident Abdullah Gül kommentierte die Entscheidung, verlorene Wahlen für ungültig zu erklären, bedauernd und mit dem Verweis auf die Entscheidung des Verfassungsgerichts von 2007.
Damals hatten Armee und Justiz - noch nicht von der AKP unter Kontrolle gebracht - verhindern wollen, dass Gül das Präsidentenamt antritt - und erwirkten, dass im Parlament, das damals noch den Präsidenten wählte, nicht mehr die absolute, sondern eine Zwei-Drittel-Mehrheit notwendig war. Auf diese Weise wurde Güls Amtsantritt zunächst verhindert. Erdoğan reagierte darauf, indem er vorgezogene Neuwahlen für den 22. Juli 2007 ankündigte, bei denen dann die Sitze der AKP von 34 auf 46 Prozent gesteigert wurden. So wurde Gül damals Präsident. Bei dem Anstieg der Stimmen der AKP spielte antidemokratischer Druck, zu dieser Zeit noch gegen die AKP gerichtet, und Benachteiligung eine zentrale Rolle. Die Frage ist nun, ob die offensichtliche Benachteiligung der Opposition bei der Bürgermeister-Neuwahl am 23. Juni auch İmamoğlu, ähnlich wie damals Gül, zu Gute kommen wird - oder nicht.
Eigentlich wurde nicht nur İmamoğlu, sondern wurden alle, die sich durch die Wahlen eine Veränderung erhofft hatten, benachteiligt. Eine gewonnene Wahl wurde ihnen gestohlen. İmamoğlu bereitet nun seine nächste Kampagne mit dem Slogan »Alles wird gut!« vor. Nachdem ihm ein dreizehnjähriger Schüler »Bruder Ekrem, alles wird gut« zugerufen hatte, wurde dies schnell zum Kampfruf der Opposition.
In Istanbul geht seither der »Geist von Gezi« um. Die Gezi-Proteste vom Mai 2013 waren der größte und einflussreichste gesellschaftliche Widerstand der modernen türkischen Geschichte, mit dem sich erstmals massenhaft Wut gegen das von Erdoğan errichtete autoritäre System entlud. Die Bewegung, die auf dem Taksim-Platz begann und sich Schritt für Schritt auf andere Städte ausbreitete, wurde von unterschiedlichen sozialen Schichten unterstützt. Vielen war damals schon klar, dass das autoritäre System Erdoğans der Türkei großen Schaden zufügen würde.
Heute zeigt die Annullierung der Wahlen in Istanbul einmal mehr, dass diese Bedenken begründet waren. Aus diesem Grund haben auch bekannte Künstler und Intellektuelle begonnen, »Alles wird gut« in den sozialen Medien zu verkünden - und sich so öffentlich mit İmamoğlu solidarisch zu erklären. Und genau wie bei Gezi wurde in den Straßen aus Protest wieder auf Töpfe und Pfannen geklopft.
Die am 23. Juni stattfindende Neuwahl in Istanbul ist längst viel mehr als eine einfache Regionalwahl. Eine erneute Niederlage für Erdoğans Kandidaten würde eine Beschleunigung des Niedergangs für die Regierung bedeuten. In der Tat birgt die Entscheidung des Wahlausschusses Möglichkeiten für zwei Szenarien: Geht dieser zweite Wahlgang durch Betrug für die AKP aus, wäre das die Einladung für ein neues Gezi. Eine erneute Niederlage der AKP wiederum öffnet die Tür zur Spaltung der Partei und zu vorgezogenen Neuwahlen in der Türkei.
Aus dem Türkischen von Svenja Huck
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